J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 55
man wollte alles, was an die Tat erinnerte, wegschaffen, damit auch die Gottheit vergesse und
es die Gesellschaft nicht büßen lasse. Natürlich hat dieser Gesichtspunkt mit dazu beigetragen,
das Strafrecht als soziales Institut auszubilden und von der Rache zu lösen; denn es bestand
nunmehr ein Bedürfnis der Gesellschaft zu strafen, das viel schwerer wog als die Leidenschaft
des Verletzten.
Eine rationell-sinnfällige Ausladung der Vergeltungsidee ist aber der Gedanke der Ab-
schreckung. Die Sühne will das Verderben abwenden; eine volkstümliche Anschauung,
welche die Abwendung lediglich in der Verhinderung der Wiederholung des Verbrechens er-
blickt und die seelische Sühnung in der äußerlichen Furcht vor der Strafe sieht, verkehrt die
Idee der Sühne in die Abschreckungsidee, welche große Gebiete der Kulturwelt beherrscht und
beherrscht hat. Vielfach ist die Jdee# der Abschreckung noch eine recht rohe und sinnliche. Man
will nicht etwa abschrecken durch die Strafdrohung, so daß die Strafvollziehung nur eigentlich
etwas Nebensächliches wäre, sondern man will eben gerade abschrecken durch die Strafvoll-
ziehung, macht darum diese so öffentlich als möglich und so grausig als möglich. Noch im Anfang
des 19. Jahrhunderts war es Sitte, zu Hinrichtungen die Kinder mitzunehmen, damit sie vor
dem Verbrechen eine heilsame Scheu empfingen, da ihnen die Strafe handgreiflich vor Augen
trat; der Galgenbühl ist meist ein weithin schauender Hügel und der Galgen das überall sicht-
bare Wahrzeichen der Gerechtigkeit, wie es einer der hervorragendsten Maler, Vettore Pisano,
zweimal auf seinen Städtebildern angebracht hat 1.
Immerhin hat diese Idee wesentlich den Gedanken genährt, daß das soziale Interesse
am Strafrecht beteiligt sei; das Strafrecht wurde aus einer Talionseinrichtung zugunsten des
Einzelnen zu einer Sühneeinrichtung zugunsten der Gesamtheit.
Allerdings ist diese Sühneeinrichtung nicht absolut: sie läßt Ausnahmen zu. sofern in ge-
wissen Fällen das Strafbedürfnis erlischt oder hinter anderen sozialen Erfordernissen zurück-
steht. Daraus ergibt sich die Rechtfertigung der Verjährung und der Begnadigung:2.
§ 44. Entstehung der Schuldvergeltung.
Der Gedanke der Blutrache war äußerliche Vergeltung: darum sah man ursprünglich
nur auf den äußerlichen Schaden. nicht auf die innere Schuld; und lange Zeit ist auch das soziale
Strafrecht auf diesem Stande geblieben. Viele Völker strafen die Tat rein ihres Erfolges wegen
und ohne Rücksicht auf den sich dabei entwickelnden seelischen Vorgang. Noch ein so entwickeltes
Strafrecht wie das altchinesische ahndet das Zufallsvergehen, d. h. die schuldlose Missetat, und
auch das japanische Strafrecht ging vor der Einwirkung europäischer Ideen dahin, daß man
auch Wahnsinnige und Willenlose bestrafte. Später machte man Unterschiede: man hielt die
vorsätzliche und die nichtvorsätzliche Tat auseinander und bestrafte die vorsätzliche Tat härter
als die unvorsätzliche; so schon in den Blütezeiten der Blutrache: das JIslamrecht zwingt
den Bluträcher, im Falle der absichtslosen Tötung das Wergeld, d. h. den Ersatz für den Ge-
töteten, anzunehmen, während er bei absichtlicher Tötung das Wergeld zurückweisen und die
Blutrache durchführen darf. Ebenso gestattet das jüdische Recht dem absichtslosen Täter, in die
Asylstadt zu fliehen und dort zu bleiben, während der absichtliche Täter in der Asylstadt nicht
geduldet wird. Dieser Zustand dauert längere Zeit. Allmählich nimmt man einige Fälle.
wie den Fall des Wahnsinns und den Fall offensichtlichen Irrtums, ganz von der Strafe aus, und
so kommt man endlich auf die schwierigste Unterscheidung, auf den Unterschied zwischen dem
fahrlässigen und dem völlig schuldlosen Tun. Fahrlässig ist derjenige, der den Erfolg nicht will
und nicht voraussieht, ihn aber voraussehen würde, wenn er die Achtsamkeit hätte, welche das
Leben im allgemeinen oder welche Gewerbe, Stand, Beruf im einzelnen Falle (von ihm)
verlangen. Man sagt in diesem Fall: es ist ein Willensfehler, eine Schuld, wenn man bei
den Gefahren, die das Leben bringt, die Geistesspannung versäumt, die nötig ist, um Ver-
1 Auf dem Tondo in der Berliner Gallerie und dem hl. Georgsbild in S. Anastasia in Verona.
* Bgl. Wesen der Strafe S. 18 f. Die Geschichte der Begnadigungslehre ist kennzeichnend
jür die shüofophische Auffassung des Strafrechts: * darüber Sternberg, Begnadigung
bei den Naturrechtslehrern, Z. f. vgl. R. XIII S. 321 f.