56 I. Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte.
letzungen der Mitmenschen zu vermeiden; denn dieser Mangel an Aufmerksamkeit zeugt von
einer frevelhaften Gleichgültigkeit gegen die Interessen anderer.
Je gefährlicher eine Tätigkeit ist, um so mehr ist man gehalten, alle Möglichkeiten zu über-
denken, um einen unheilvollen Erfolg zu verhüten. In der heutigen Zeit, in der Zeit des Dampfes
und des elektrischen Betriebes und in einer Zeit, wo die Medizin vor den kühnsten Operationen
nicht zurückschreckt, tritt das dringende Gebot höchster Sorgfalt ganz besonders an den Menschen
heran. So führt die Zeit, welche die Zufallshaftung zurückweist, eine strenge Haftung für
Fahrlässigkeiten, namentlich für Berufsfahrlässigkeiten herbei, eine Haftung, die sich manchmal mit
dem alten System der Zufallshaftung berührt.
§ 45. Treibende Kräfte der Entwicklung.
Die große Tat der Weltgeschichte, die Umwandlung der Blutrache in das staatliche Straf-
recht, hat sich in folgender Weise vollzogen: wie man früher die Blutrache innerhalb der erweiterten
Familie nicht zuließ, so daß die Familiendisziplin aushelfen mußte, so läßt der Staat, als eine
die Familien umfassende Gemeinschaft, die Blutrache, welche am Mark des Gemeinwesens
nagt, nicht mehr zu und ersetzt sie durch die staatliche Zucht.
Diesen Schritt hat insbesondere frühzeitig das römische Recht getan und jeden Mord
eines römischen Bürgers als parricidium dem staatlichen Gerichte unterworfen. Bei manchen
Völkern hat man mindestens die Blutrache unter staatliche Kontrolle gestellt, wie im Islam
und wie in Japan in der Zeit der Tokugawa (17., 18., bis Mitte des 19. Jahrhunderts). Auch
folgende Wendung ist nicht selten: die Blutrache wird durch die staatlichen Organe vollstreckt, und
der Scharfrichter ist das Werkzeug des Bluträchers. Mit anderen Worten: die Blutrache wird
nur zugelassen, soweit sie den staatlichen Zuchtbestrebungen gemäß ist.
Diese Entwicklung ist durch drei Momente gefördert worden: durch das Häuptlings-
wesen, durch die Asylidee und durch die dem Rachegeist widerstrebenden
Religionen.
Das Häuptlingswesen hat hier ganz besonders seine segensreiche Wirksamkeit
entfaltet; allerdings nicht immer, ja nicht einmal vorzugsweise aus väterlichem Wohlwollen
oder weitschauender sozialer Politik, obgleich auch diese hervorragenden Momente nicht ganz
ausgeschlossen waren; hauptsächlich war es das Machtgefühl der Häuptlinge, das hier zur Geltung
kam, und es war ihr Egoismus: Geldstrafen und Konfiskationen fielen ihnen ganz oder teilweise
anheim. Und so ist es gekommen, daß z. B. ostafrikanische Stämme, die ein entwickeltes Häupt-
lingsrecht haben, bereits die Blutrache vollständig verdrängten, so daß das Häuptlingsstrafrecht
das Racheinteresse absorbierte. Ja, hier ist es vorgekommen, daß sich Häuptlinge unmittelbar
ins Mittel legten und ohne Anklage die Verbrecher verfolgten, also bereits das einführten,
was man Untersuchungs- oder Inquisitionssystem nennt.
Asyl ist eine teils durch die Religion, teils durch den Familien= oder Schutzverband herbei-
geführte Einrichtung, kraft welcher die Blutrache in gewissen Verhältnissen und Beziehungen
pausieren muß.
So zunächst das örtliche Asyl: es gibt Ortlichkeiten, an denen die Blutrache nicht geübt
werden darf. Namentlich kommt es vor, daß sich der Täter in einen Tempel, einen heiligen.
Hain, in das Haus des Richters oder sonst in ein öffentliches Gebäude flüchtet, in welchem Falle
er nicht angegriffen und herausgeholt werden darf. Diese Art der Entwicklung hat vielfach
dazu geführt, daß die Blutrache ihre Schärfe verlor und in das Kompositionssystem überging,
oder daß sich die Häuptlinge ins Mittel legten und ausgleichend oder sühnend verfuhren. Eine
charakteristische Gestalt nahm die Asylstätte im jüdischen Rechte an: hier wurde untersucht, ob die
Tat eine vorsätzliche oder unvorsätzliche war; im ersten Falle wurde der Täter aus der Asylstadt
herausgeführt und dem Bluträcher überlassen, im anderen Falle durfte er in der Asylstadt bleiben
und war in ihr unangefochten. Ahnliches ist auch bei anderen Völkern nachweisbar. Das
Asyl kann aber auch zeitlich sein, indem bestimmte Tage des Jahres oder der Woche der Blut-
rache entzogen sind; es kann auch persönlich sein: der Täter ist mit dem Augenblick, wo er mit
einem Familiengenossen des Verletzten oder einem mächtigen Schutzfreunde in Verbindung ge-
treten ist, gegen die Racheübung gefeit Anayaspystem, von anaya, einem kabylischen Wort).