58 I. Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte.
Die Nachteile der Selbsthilfe haben sich zur Genüge gezeigt. Sie gibt die Herrschaft des
Rechtes dem Zufall anheim und macht die Rechtsverwirklichung zu einer Machtfrage; sie ent-
fesselt ohne Schutz und Aussicht das Meer menschlicher Leidenschaften, sie schafft keine Beruhigung,
sondern erzeugt ein ständiges Hin= und Herwogen der Gewalt; sie hält die Menschheit von der
Kulturarbeit ab.
Gegen diese schweren Nachteile suchte die Selbsthilfe von sich aus Heilung zu bieten: die
Selbsthilfe wurde öffentlich, sie verlangte die Mitwirkung von Standesgenossen, sie verlangte
eine bestimmte Form, insbesondere auch eine Ankündigung; hierdurch wurde eine Menge von
Mißbräuchen entfernt: denn ein freches Widerstreben gegen die Volksüberzeugung wagte man
selten; dazu kam noch, daß das Recht der früheren Zeiten durchsichtiger und dem Volke bekannter
war als heutzutage. Besonders klar tritt dies imkeltischen Rechte hervor. Die Pfändung
(das athgabail) vollzog sich hier in gewissen Fristen; nach Ablauf der letzten Frist (dithim) trat
der Verfall des Pfandes ein. Die Pfändung mußte in Gegenwart eines Gewährsmannes
(aigne toxail), die Verbringung an die Pfandstätte in Gegenwart noch eines zweiten oder
weiterer drei Männer stattfinden. Der Schuldner entging der Pfändung, wenn er Sicherheit
((raith) dafür stellte, daß er bei Gericht erscheinen werde, um die streitige Frage zur Entscheidung
zu bringen 1. Auch öffentliche Organe wurden mitunter zugezogen, wenn auch nur mit passiver
Anwesenheit, so z. B. der Prätor bei der legis aotio per manus injectionem, so der sal-
fränkische thunginus beim nexticantichio; und ein wichtiger Fortschritt was es, als der Straf-
prozeß entstand: derjenige, der zu Unrecht Selbsthilfe gellbt hatte, wurde auf dem Wege des
Strafprozesses mit mehr oder minder schwerer Strafe belegt; das war eine mächtige Gegen-
wirkung gegen schwere Mißbräuche 2.
Aber alle diese Hilfsmittel waren nur scheinhaft. Der wahre Fortschritt mußte darin
bestehen, daß die Organe des Staates nicht bloß passive Anwesenheit gewährten, sondern selbst
zur Verwirklichung des Rechts tätig wurden. Dies hatte schon den außerordentlichen Vorteil,
daß auch der Schwache mit dem Mächtigsten fertig werden konnte, indem er den Staat anrief,
der auch dem gewaltigsten Privatmann gegenüber der stärkere ist. Daher gab es eine Zeit, wo
man durch Selbsthilfe und durch Prozeß sein Recht erreichen konnte. Eine neue Entwicklung
war es, als die Selbsthilfe immer mehr zurückgedrängt und zuletzt ganz verboten wurde, und
es entstand dasjenige, was man Prozeßmonopol nennt, nämlich der Grundsatz: Willst
du dein Recht wider einen widerstrebenden Willen durchführen, so mußt du dich des Hilfs-
mittels des Prozesses bedienen. Nur ganz ausnahmsweise, wenn die staatliche Hilfe fehlt
und das Einschreiten so dringend ist, daß man sonst um sein Recht käme, ist dasjenige statthaft,
was man Nothilfe nennt; dies ist noch heutzutage im BGB. anerkannt, § 229 5.
§ 48. Häuptlingsrecht und Gottesprobe.
Wie immer, so haben auch hier verschiedene Umstände zur Rechtsentwicklung beigetragen,
wobei die Menschen unbewußt die Diener des Fortschritts waren. Vor allem ist der Prozeß
wesentlich gefördert worden durch das Häuptlingsrecht. Es war auch hier eine
Steigerung ihrer Machtfülle, als der Rechtsuchende sich an den Häuptling wenden und bei
ihm sein Recht holen mußte. Es war ebenso eine Steigerung ihrer Machtfülle, als es dem
Häuptling zustand, das Recht auch gegenüber dem Mächtigsten durchzuführen. Außerdem gab
dies dem Häuptling eine ausgiebige Gelegenheit, sich zu bereichern, denn es handelte sich
sehr häufig um Entschädigungsansprüche, und hier behielt der Häuptling gern einen guten
Teil für sich.
Aber schon vor der Häuptlingszeit, schon in dem Stande der Totemverfassung
mußten sich mehr oder minder prozessualische Bildungen gestalten, weil die Selbsthilfe im innern
I. meine aohalung über das keltische Pfändungs- und Prozeßrecht, Zeitschr. f. vergl.
Nechtswisse enschaft XXI S. 198 f.
So im keltischen Recht, Heischr. f. vergl. Rechtswissenschalt XXV S. 203; umgekehrt trat
Strafe ein bei unberechtigter Pfandwehr; so im germanischen Recht, vgl. Plan it, ermögens-
vollstreckung im Mittelalter S. 707 f.
* Bgl. mein Lehrbuch des bürgerlichen Rechts I S. 229.