62 I. Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte.
C. Blick in die Zukunft.
§ 50. Künftige Bildungen.
Die künftige Rechtsentwicklung ist durch das Gegebene vorgezeichnet. Vom Gesamtrecht ist
die Menschheit ausgegangen, und zum Einzelrecht ist sie vorgeschritten; die Irrgänge des Einzel-
strebens haben allerdings dahin geführt, daß gesellschaftliche Einrichtungen entstanden sind, um die
Ausbeutung des Einzelnen durch seine Mitmenschen zu mäßigen, um die Auswüchse des Wettverkehrs
zu dämpfen und um gegenüber der übermäßigen Einzelhabe einen Grundstamm des öffentlichen.
Vermögens zu erwerben, der von der Betriebsamkeit des Einzelnen unabhängig ist; andererseits
haben die Vereinigungen der Gewerbetreibenden vielfach den Verkehr beherrscht und auf solche
Weise Ergebnisse erzielt, die den Grundgesetzen des freien Wettbewerbs zu widersprechen scheinen.
Manche haben daraus geschlossen, daß die Menschheit wieder rückwärts gehe und zum
Gemeineigentum und zur Gemeinwirtschaft zurückkehre. Davon kann keine Rede sein. Auch
die Vereinigungen zum gemeinsamen Wirken und zur Unterdrückung des Wettbewerbs fördern
immer wieder den persönlichen Egoismus. Die einzelnen Geschäfte vereinigen sich, weil sie auf
diese Weise besser fahren, als wenn sie sich gegenseitig zerfleischen. Die Gemeinsamkeit führt
daher immer wieder zum Privatvermögen des Einzelnen. Auch die sozialen Vorsorgeeinrich-
tungen sind in keiner Weise Feinde des Einzeleigentums, sondern im Gegenteil: sie stellen dieses
Eigentum auf eine festere Grundlage; sie verhüten, daß die unteren Schichten der Menschheit
unserer Gesellschaftsordnung gefährlich werden.
Dazu kommt, daß das Erfinderrecht stets das Vorrecht des Einzelnen bildet und der Einzelne
kraft seiner in der Lage ist, einen ganzen Ring zu sprengen und sich zum Beherrscher der Industrie zu
machen. Zwar werden auch hier die Mächte der Vereinigung den Erfinder an sich zu ketten suchen,
aber der Erfindergeister sind so viele, daß hier immer wieder ein befreiendes Element gegeben ist.
Das Einzelrecht wird also bleiben, aber natürlich in tausend Schattierungen und in
vielfacher Verbindung mit genossenschaftlichen Elementen; und die Gesellschaft wird bleiben in
genossenschaftlicher Form, in der Form des Staates, in der rechtlichen Vereinigung der Kräfte —
wenn auch über die Art des Staates der Zukunft und namentlich über die Möglichkeit eines
Weltbundes hier von Vermutungen abgesehen wird ½.
Schon wird der Gedanke wach, ob es uns einstens gelingen wird, unsere Herrschaft über
fremde Himmelskörper auszudehnen; dann werden wieder gewaltige Probleme an uns heran-
treten, von denen wir einstweilen schweigen dürfen.
Das Ziel der letzten menschlichen Entwicklung aber kann nach allem Gegebenen nicht das
persönliche Glück sein, sondern die höchste Entwicklung der Kultur nach den zwei Seiten, nach
der Seite der Beherrschung der Welt (der Macht) und nach der Seite des geistigen Lebens.
Mächtig sollen wir werden, die Beherrscher des Alls; geistig aber sollen wir zur höchsten Erkenntnis
reifen, in der Kunst die höchsten Gebiete beherrschen und in der Religion das Göttliche erfassen.
Auf diese Weise wird die vom Absoluten ausgehende Bewegung sich immer mehr dem Absoluten.
nähern, die Gottähnlichkeit der Menschheit sich ständig steigern. Welche Bedeutung eine solche
Zweckentwicklung der ausgestrahlten Bewegung für das Weltgetriebe hat, darüber entschlagen
wir uns der Vermutung; es genügt, das Problem anzudeuten. In der bezeichneten Entwick-
lung aber hat das Recht eine doppelte Betätigung: auf der einen Seite ist es als Außerung des
Kulturlebens ein Gegenstand der Menschenkunde, auf der anderen Seite ist das Recht selbst
ein Hilfsmittel der Kultur, es läutert die Gesinnung und schützt die Kulturentwicklung gegen
feindliche Mächte. Rechtstheorie wie Rechtspraxis, Rechtsphilosophie, Rechtsgeschichte,
Rechtsdogmatik und ihre Anwendung sind in gleicher Weise unentbehrliche Förderungsmittel
des menschlichen und damit des allweltlichen Fortschritts; das Recht gleicht dem Lichte, das
glänzt und uns das All enthüllt, das aber zugleich die Wärme spendet, welche die ganze Natur
in Bewegung setzt; es entspricht dem Weltwesen, das im unendlichen Willen und im unend-
lichen Intellekte schafft. Das Recht ist göttlich und wird es bleiben.
Stets wird der Perseus entstehen, der den drohenden Drachen, nämlich die kulturfeind-
lichen Mächte, mit dem Gorgohaupte des Rechts zu Stein verwandelt.
Über das Bölkerrecht vgl. Lehrb. der Rechtsphilos. S. 203 ff.