70 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts.
besitz, war die Grundlage des Reichtums. Trotzdem begegnen uns die Germanen in historischer
Zeit nicht nehr als nomadisierende Hirtenstämme. Sie haben Wohnsitze und pflegen den Acker-
bau, aber freilich nicht intensiv, sondern nur oberflächlich, vermutlich nach der von den National-
ökonomen sogenannten Methode der wilden Feldgraswirtschaft.
Zur Zeit Cäsars bestand an Grund und Boden weder Privateigentum noch Sonder-
nutzung. Das Land wurde alljährlich den Geschlechtsverbänden des Gaues zu gemeinschaft-
licher Nutzung zugewiesen. In der Zeit des Tacitus befanden sich wenigstens Haus- und Hof-
stätte im Sondereigen des einzelnen. Am Ackerlande bestand sogenannte Feldgemeinschaft
mit wechselnder Hufenordnung. Als Eigentümer galt die aus der Sippe herausgewachsene
Gesamtheit der Dorfgenossen, während dem einzelnen sein Anteil an der Feldmark durch periodisch
wiederkehrende Verlosung zur Sondernutzung zugewiesen wurde. Da keiner ein Interesse
hatte, mehr zu erhalten, als er bebauen konnte, mochten die Anteile der einzelnen mit Rück-
sicht auf die Arbeitskräfte, über die sie verfügten, sich verschieden gestalten. Weder Sonder-
eigen noch Sondernutzung gab es an der gemeinen Mark, Almende, deren Hauptbestandteil
Wald und Weideland bildeten. Hier übten die Markgenossen nach Bedarf die Jagd, Weide-,
Holzungs- und Rodungsrechte aus. Wo die Ansiedlung gegen die herrschende Regel nicht in
Dorsschaften, sondern in Einzelhöfen erfolgt war, bestand ein Sondereigentum von vornherein
nicht nur an der Hofstätte, sondern auch am Ackerland. Die Rechte der Genossen an Grund
und Boden, das Recht an der Hofstätte, am Ackerland und an der Almende faßt der Ausdruck
Hufe als wirtschaftliche Einheit zusammen. Nach der Völkerwanderung tritt uns allenthalben
ein Sondereigentum am Ackerlande entgegen, das sich in der Weise ausgebildet haben mochte,
daß im Gefolge längerer Sondernutzung die wechselnde Hufenordnung eine feste wurde, dem
einzelnen seine Quote dauernd verblieb und aus seinem Nutzungsrechte ein Eigentum erwuchs.
§ 3. Die Sippe. Innerhalb des Gemeinwesens hatte der Verband der Sippe öffentlich-
rechtliche Aufgaben, die bei entwickelteren Kulturverhältnissen der Staatsgewalt obliegen.
Das Wort Sippe (got. sibja) hat eine zweifache Bedeutung. In der einen bezeichnet
es die Blutsfreunde, die „Magen“, die Magschaft des einzelnen. Innerhalb der Magschaft
stehen sich die Gruppen der Vatermagen und die der Muttermagen gegenüber, nach manchen
Rechten die „Vierendeele“ und die „Achtendeele“, als die durch die vier Großeltern bzw. die
acht Urgroßeltern vermittelten Verwandtschaftsgruppen der Ausgangsperson. Die Verwandten
des Mannesstammes werden als Schwert= oder Speermagen, die weiblichen Verwandten und
die Männer von der Weiberseite her als Spindel- oder Kunkelmagen zusammengefaßt.
In anderer Bedeutung verwendet man das Wort Sippe für den Geschlechtsverband und
nur in diesem Sinne erscheint die Sippe als eine öffentlich-rechtliche Genossenschaft. Ihre
Verfassung war eine agnatische und eine genossenschaftliche. Auf vaterrechtlicher, nicht, wie
manche glauben, auf mutterrechtlicher Grundlage aufgebaut, umfaßte sie die von einem gemein-
schaftlichen Stammvater in männlicher Linie abstammenden Personen. Die Verfassung des
Sippeverbandes beruhte auf der Gleichberechtigung der Sippegenossen; fremd blieb ihm eine
patriarchalische Spitze. In der Urzeit war er ein agrarischer und ein militärischer Verband
(kara). Er war der älteste Friedensverband, schloß jede Fehde unter den Genossen aus und
gewährleistete ihnen Rache und Schutz. Wurde ein Mitglied der Sippe erschlagen, so waren
die Sippegenossen verpflichtet, zur Blutrache zu schreiten oder den Anspruch auf sein Wergeld
oder Manngeld (leudi, wer) zu erheben, das nach bestimmtem Verhältnis unter ihnen verteilt
wurde. Nachmals fällt ein Teil, gewöhnlich zwei Drittel, bei den Salfranken die Hälfte, als
sogenannte Erbsühne an die nächsten Erben des Erschlagenen, während der Rest als Magsühne,
Maggeld den „gemeinen Magen“ gebührt, von denen die näheren mehr erhalten als die ent-
fernteren. Der Rache des beleidigten Geschlechtes war gleich dem Missetäter dessen Sippe
ausgesetzt, die ihn zu schützen und für die Zahlung des von ihm verwirkten Wergeldes wenigstens
teilweise aufzukommen hatte.
Schon frühzeitig ist die Teilnahme an Fehde und Wergeld gleich den später zu nennenden
Funktionen des Geschlechtsverbandes über den Kreis der agnatischen Sippegenossen ausgedehnt
worden, zunächst auf die Muttersippe, dann auf die Blutsverwandtschaft überhaupt, wobei
aber die ursprüngliche Bedeutung des agnatischen Verbandes oft noch insofern nachwirkte, als