Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

1. H. Brunner, Quellen und Geschichte des deutschen Rechts. 71 
in manchen Rechten die Muttermagen oder die Spindelmagen nur subsidiär oder zu geringeren 
Anteilen am Wergeld beteiligt wurden oder gewisse Bestandteile des Wergeldes den Schwert- 
magen vorbehalten blieben oder einem von diesen die Leitung der Fehde gebührte. 
Auch im Rechtsgang trat die Sippe dem Genossen helfend zur Seite. Der Eid war ur- 
sprünglich Geschlechtseid. Er wurde mit Sippegenossen geschworen, die ihrerseits zur Eidhilfe 
verpflichtet waren. · 
In erhöhtem Maße äußerte sich die Schutzpflicht der Sippe in bezug auf Unmündige und 
Weiber, denen die Schutzgewalt des Vaters bzw. des Ehemanns fehlte. Sie befanden sich unter 
der Gesamtvormundschaft der Sippe. Diese bestellte eines ihrer Mitglieder als Verwalter, 
um unter ihrer Aufsicht und Verantwortlichkeit die Geschäfte der Vormundschaft zu führen, 
die sie in ihrer Gesamtheit nicht erledigen konnte oder wollte. Wenn ein Genosse verarmte, 
war die Sippe verpflichtet, ihn zu unterstützen, wenn er starb, für eine dem Herkommen ent- 
sprechende Bestattung zu sorgen. 
So groß die Bedeutung der Sippe war, so bildete sie doch keinen Staat im Staate. Ihre 
Unterordnung unter die Staatsgewalt äußerte sich u. a. darin, daß die Friedlosigkeit, die das 
Gemeinwesen verhängte, das Band der Sippe entzweischnitt, indem sie die Gemeinsamkeit 
des Geächteten mit seiner Sippe auflöste, eine Tatsache, die an sich die Auffassung widerlegt, 
daß das germanische Gemeinwesen sich nicht über die Stufe des sogenannten Geschlechterstaats 
hinausgehoben habe. 
Wie es einerseits zulässig war, sich durch Entsippung, d. h. durch freiwilligen Austritt 
aus der Sippe, den Sippepflichten zu entziehen, so war es andererseits der Sippe gestattet, 
einen Genossen, für den sie nicht einstehen wollte, auszuschließen, indem sie sich öffentlich von 
ihm lossagte. 
#4. Das Stündewesen. Die Bevölkerung gliedert sich in Freie, Liten und Knechte. 
Der Stand der Freien zerfällt in zwei Klassen, die Gemeinfreien, die den Kern des Volkes bilden, 
und die Adligen, Mitglieder der tatsächlich herrschenden Geschlechter, die höheres Ansehen ge- 
nießen und dem Volke die Könige, die Fürsten und die Priester zu liefern pflegen. Doch läßt 
sich das Merkmal des Standes, der Genuß erblicher Vorrechte für die nobiles der taciteischen 
Zeit nicht nachweisen. Rechtlos war der Knecht, er galt als Sache gleich dem Vieh. Es gab 
angesiedelte Knechte, die nach Art von Kolonen lebten, und solche, die als Haus- und Hofgesinde 
dienten. Eine Mittelstufe zwischen den Knechten und den Freien nahmen die Liten, Leten, 
Laten, Aldien oder Barschalke ein, ein Stand von Halbfreien, der freiwilliger Unterwerfung 
unter den Sieger seine Entstehung verdankt, während Kriegsgefangenschaft und gewaltsame 
Unterjochung den Ursprung der Knechtschaft erklären. Der Lite ist rechtsfähig, darbt aber der 
Freizügigkeit und ist kraft Geburt seinem Herrn zu Diensten verpflichtet. In den Stand der 
Halbfreien rückte der Knecht durch die Freilassung auf. Doch gab es privilegierte Formen der 
Freilassung, welche die volle Freiheit begründeten. Zum deutlichsten Ausdruck gelangten die 
Standesunterschiede, seitdem eine rechtliche Fixierung der betreffenden Ansätze stattgefunden, 
im Wergelde, der Summe, die zur Sühne des Totschlags an die Verwandten der Erschlagenen 
bezahlt wurde. Dem Krechte fehlte es, der Lite hatte nur das halbe Wergeld des Freien. Das 
volle entspricht in späterer Zeit dem Werte des normalen Besitztums, der Hufe. 
§ 5. Recht und Rechtsbildung. Das Recht (reht, lag, öwa, 5, wizzod) wird verstanden 
als die Ordnung des allgemeinen Friedens; es ist ungeschriebenes und weitaus überwiegend 
Gewohnheitsrecht. Eng mit Religion und Sitte verwachsen, wird es durch unmittelbare An- 
wendung der Rechtssätze im Rechtsleben entwickelt und fortgebildet. Der freie Mann kennt 
es infolge seiner pflichtmäßigen Teilnahme an der öffentlichen Rechtsprechung. Die naiv- 
sinnliche Auffassung, die selbst in der Sprache des Rechts zum Ausdruck kam, der Reichtum an 
Formen und Symbolen, in die sich der Rechtsgedanke kleidete, trugen dazu bei, das Recht im 
Bewußtsein des Volkes lebendig zu erhalten. Uralt ist ferner die Sitte, den Rechtssatz in Sprich- 
wörter oder in Reime zu fassen. Als Träger des Rechtes erscheinen nur die freien Volksgenossen. 
Rechtlos ist der Unfreie, rechtlos der Fremde. Trotz gemeinsamer Grundlage ist das Recht bei 
den verschiedenen Völkergruppen ein verschiedenes. Seit sich die Stammesbildung im recht-
	        
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