Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

72 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts. 
lichen Sinne vollzogen hat, erscheint jeder Stamm im Besitze eines besonderen Stammesrechts. 
Die Kenntnis des Rechts schöpfen wir für diese Periode aus den Mitteilungen römischer Schrift- 
steller, namentlich aus der in den ersten Jahren der Regierung Trajans abgefaßten Germania 
des Tacitus, und aus einer Vergleichung der Quellen der Folgezeit, die zum Teil altes Gewohn- 
heitsrecht enthalten, das noch in die Zeiten der Völkerwanderung hinaufreicht. Einzelne wichtige 
Ergebnisse liefert die vergleichende Sprachforschung, indem sie den Wortvorrat untersucht, 
der den germanischen Sprachen und Mundarten mit den übrigen arischen Sprachen von alters 
her gemeinsam ist. Manche Lücken unserer Quellen vermag die vergleichende Rechtsgeschichte 
auszufüllen, indem sie die Nachrichten über die ältesten Rechtszustände bei anderen, insbesondere 
bei arischen Völkern, kritisch verwertet. 
§ 6. Die Berfassung. Der altgermanische Staat erscheint als Kriegs- und Rechtsgenossen- 
schaft der freien Volksgenossen und beruht insofern auf demokratischer Grundlage, wenn man 
dabei von der Tatsache absieht, daß ein Teil der Bevölkerung, in Knechtschaft lebend, des Rechtes 
darbte und die Waffenfähigkeit die Voraussetzung der vollen Rechtsfähigkeit bildete. 
Die römischen Schriftsteller unterscheiden bei den Germanen civitas und pagus, Völker- 
schaft und Gau, Bezeichnungen, die sie ursprünglich für die keltischen Verfassungsverhältnisse 
zur technischen Anwendung gebracht und dann auf die Germanen übertragen haben. Die 
civitas ist eine einzelne politisch selbständige und abgeschlossene Volksgemeinde. Eine Unter- 
abteilung ist der Gau, ein landschaftlicher Verband, der vermutlich aus der Niederlassung einer 
Tausendschaft hervorgegangen war. Die Gauleute sind in eine Anzahl kleinerer persönlicher 
Verbände, Hundertschaften, gegliedert, die den Zwecken des Heer- und Gerichtswesens dienen. 
Die Hundertschaft bildet im Heere einen Heerverband. Im Frieden wird sie zum Gerichts- 
dienst aufgeboten und ist als Gerichtsgemeinde das hauptsächliche Organ der Rechtspflege. 
Ein landschaftlicher Bezirk war die Hundertschaft in der Zeit vor der Völkerwanderung noch 
nicht. Erst nachmals hat sie sich bei einzelnen Stämmen zu einem solchen in verschiedener Aus- 
gestaltung umgewandelt. 
Der politische Schwerpunkt der Völkerschaft beruht in der Landesgemeinde, concilium 
civitatis. Sie tritt zu bestimmten Zeiten, gewöhnlich bei Neu- oder Vollmond, zusammen. 
Die Volksgenossen erscheinen bewaffnet. Die Landesgemeinde ist Heerversammlung und dient 
zur Heerschau. Sie entscheidet über Krieg und Frieden und andere wichtige Angelegenheiten 
der Völkerschaft. In der Landesgemeinde werden die Jünglinge wehrhaft gemacht und Frei- 
gelassene als vollberechtigte Volksgenossen ausgenommen. Die Landesgemeinde ist Wahl- 
versammlung;j sie vollzieht die Wahl und Anerkennung des Königs, kürt die Gaufürsten und 
den Herzog. Sie waltet als Gerichtsversammlung und richtet namentlich über politisch-militäri- 
sche Verbrechen, Landesverrat, Ubergang zum Feinde und Feigheit. Aus der Bedeutung 
der Landesgemeinde erklärt sich das verhältnismäßig lose Gefüge der germanischen Verfassung 
und die Leichtigkeit, mit der aus der Vereinigung mehrerer Völkerschaften neue Gesamtstaaten 
hervorgehen. Länger dauernde Bündnisse machten eine gemeinsame Heeresversammlung 
zur Notwendigkeit, und damit war das verfassungsmäßige Organ des zum Staate erwachsenden 
Bundes im Keime gegeben. 
Die Führung der civitas stand allenthalben bei einem oder bei mehreren herrschenden 
Geschlechtern. Die Schriftsteller des Altertums unterscheiden die germanischen Herrscher als 
reges, Könige, und als principes, Fürsten. Das Merkmal des rex ist ihnen die ungeteilte Herr- 
schaft über die gesamte civitas. Von principes sprechen sie, wo die Völkerschaft unter einer 
Vielheit von Klein- oder Gaukönigen steht. Wenn auch der Umfang der königlichen und der 
fürstlichen Gewalt ein verschiedener ist, so stellt sich doch ihr Inhalt als ein im wesentlichen gleich- 
artiger dar. Mitunter wechseln innerhalb derselben Völkerschaft Königtum und Prinzipats- 
verfassung miteinander ab. Die Fürsten walten als Richter im Gau, führen im Kriege die Heeres- 
abteilung des Gaues und bilden in ihrer Gesamtheit einen Völkerschaftsrat, welchem die Er- 
ledigung laufender, die Vorbereitung wichtigerer, der Landesgemeinde zufallender Sachen 
obliegt. Da die Staaten mit Prinzipatsverfassung eine ständige oberste Spitze entbehrten, 
mußte hier für den Kriegsfall zur Führung des Heeres ein Herzog gekoren werden und führte 
das Bedürfnis nach sakraler Vertretung der ganzen civitas zur Ausbildung eines besonderen
	        
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