Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

1. H. Brunner, Quellen und Geschichte des deutschen Rechts. 73 
Landespriestertums. Dagegen ist der König als solcher Heerführer und Oberpriester der Völker- 
schaft und hat die Stellung des vorsitzenden Richters in der Landesgemeinde. Unter ihm stehen 
als Unterkönige die Vorsteher der einzelnen Gaue, mit denen er öffentliche Angelegenheiten 
berät, ehe sie an die Landesgemeinde gelangen. Der König wird aus dem königlichen Ge- 
schlechte gewählt, indem die Wahl den Mangel einer festen Erbfolgeordnung ersetzt. Aber auch 
bei der Wahl der Fürsten hält sich die Landesgemeinde an die herkömmlich herrschenden Ge- 
schlechter, wenn sie taugliche Männer besitzen. Zunächst hauptsächlich bei den östlichen Stämmen 
vertreten, dringt im Laufe der Zeit das Königtum mehr und mehr auch bei den westlichen 
Völkerschaften vor. Als sich die Bildung der deutschen Stämme vollzogen hatte, trat, hier 
früher, dort später, ein Stammeskönigtum an die Spitze der einzelnen Stämme. Nur die 
Sachsen haben an der Prinzipatsverfassung festgehalten. 
Die von den ostgermanischen Stämmen im südlichen Europa gegründeten Staaten stellten 
sich nicht in unmittelbaren Gegensatz gegen die römische Staatsordnung, sondern sie fügten 
sich formell, soweit es ihr Interesse gestattete, in deren Rahmen ein. Die Könige ließen sich 
von Rom oder Byzanz aus magistratische Titel und Würden verleihen. In der engsten Ver- 
bindung mit Ostrom verblieb das ostgotische Regiment, welches Italien nach wie vor als einen 
Bestandteil des römischen Reiches betrachtete und den römischen Verwaltungsorganismus 
fortbestehen ließ, indem es den Römern den Zivildienst, den Goten den Heerdienst vorbehielt. 
Eine Vorstufe ähnlicher staatsrechtlicher Abhängigkeit haben auch die Reichsgründungen der 
Westgoten, Burgunder und Vandalen durchgemacht; doch wußten sie sich zu gelegener Zeit 
davon zu befreien. Die inneren Einrichtungen dieser Reiche knüpften in vielen Punkten an die 
vorgefundenen römischen Institutionen an, welche freilich, namentlich bei den Westgoten und 
Burgundern, eine wesentliche Umbildung erfuhren, indem hier u. a. die römische Trennung 
der Zivil- und Militärverwaltung in der Hauptsache beseitigt wurde. Die römische Bevölkerung 
behielt Freiheit, Recht und Habe, und nur eine Landteilung wurde vorgenommen, die sich dem 
römischen Einquartierungssystem (hospitalitas) anschloß. Der einzelne römische possessor 
mußte einen Teil seines Besitztums dem Germanen, dem es durch das Los zugewiesen worden 
war, abtreten, allerdings nicht zur vorübergehenden Einquartierung, sondern zum Zweck dauernder 
Niederlassung. Da diese Art der Ansiedlung die neuen Ankömmlinge räumlich unter die römi- 
schen Provinzialen verteilte, hat sie die rasche Verschmelzung der beiden Nationalitäten wesent- 
lich befördert. 
§ 7. Heerwesen und Rechtspflege. Die Bedürfnisse des Gemeinwesens wurden durch 
die persönlichen Leistungen der Volksgenossen gedeckt. Allgemein waren Heer-, Gerichts- und 
Polizeipflicht. Jeder freie Mann leistete unentgeltlichen Kriegsdienst. Das Heer war das 
Volk in Waffen. Wie die Religion der Germanen kriegerischen Zuschnitt hatte, stand hin- 
wiederum das Kriegswesen unter religiösen Vorstellungen. Der Kriegsdienst war nationaler 
Götterdienst. Der Kriegsgott zog mit dem Heere. Götterbilder dienten als Heerzeichen. Vor 
Krieg und Schlacht wurde der Wille der Götter erkundet, der Feind durch Speerwurf den 
Göttern geweiht. Ruhmvoller Tod im Kampfe galt für das höchste Ziel männlichen Strebens. 
Das Heer gliederte sich in Tausendschaften und in Hundertschaften. Die kriegerische Haupt- 
kraft der Germanen beruhte auf dem Fußvolk, das in keilförmiger Schlachtordnung anzugreifen 
pflegte. Doch waren einzelne Völkerschaften durch vorzügliche Reiterei berühmt. Auch be- 
stand eine auserlesene Sondertruppe, die sich aus Reitern und leichtbewaffneten Fußsoldaten 
zusammensetzte. 
Ein durch den Drang nach kriegerischer Tätigkeit hervorgerufenes und vorzugsweise für 
das Kriegswesen berechnetes Dienst- und Treuverhältnis war die Gefolgschaft. Freie, wehr- 
hafte Männer begaben sich als Gefolgsleute in den Dienst der Könige, der Fürsten oder auch 
anderer, durch Ansehen und Reichtum hervorragender Persönlichkeiten. Sie schwuren dem 
Gefolgsherrn Treue, empfingen von ihm Schutz, Unterhalt und Ausrüstung und bildeten seine 
Umgebung im Frieden wie im Kriege. Hauptsächlich die adelige Jugend suchte den Gefolgs- 
dienst als die hohe Schule kriegerischen Heldentums. Nach dem Vorbilde der unter dem Familien- 
vater vereinigten Hausgenossenschaft entwickelte sich in der Gefolgschaft ein Herrschaftsverhältnis, 
das bestimmt war, in seiner Fortbildung die Grundlagen der germanischen Verfassung zu ver-
	        
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