74 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts.
ändern. Doch darf ihre Bedeutung für den altdeutschen Staat nicht überschätzt werden. Da
die Gefolgsleute im Hause des Gefolgsherrn lebten, so kann ihre Zahl nur verhältnismäßig
gering gewesen sein, eine Tatsache, die an sich die früher vielverbreitete Ansicht ausschließt, daß
die großen Wanderungen der Germanen im wesentlichen auf Züge abenteuernder Gefolg-
schaften zurückzuführen seien.
Die Rechtsprechung geschah in öffentlicher Gerichtsversammlung, Ding, Warf, ahd. madal,
mahal (mallus). Jeder Freie war verpflichtet zu erscheinen und an der Rechtspflege teil-
zunehmen. Die Eröffnung erfolgte durch feierliche Hegung, die in sakralen Förmlichkeiten
bestand und in der Verkündigung des heiligen Dingfriedens gipfelte. Ging das Ding zu Ende,
so wurde es durch rechtsförmliche Enthegung geschlossen. Das Urteil wurde nicht vom Richter,
der nur „Frager des Rechtes“ war, sondern von der versammelten Dinggemeinde gefällt auf
einen Urteilsvorschlag hin, den ursprünglich der Richter jedem der anwesenden Dinggenossen
abzuverlangen befugt war. Nachmals fiel der Urteilsvorschlag bei den Oberdeutschen und
Friesen einem ständigen Rechtsprecher (6sago, äsega), bei den Franken einem durch den Richter
ernannten Ausschuß der Gerichtsgemeinde, den sogenannten Rachimburgen, anheim. Hatte
der Vorschlag die Zustimmung, das Vollwort der Gerichtsgemeinde gefunden, das in der Form
des Waffenschlags (nord. vápnatak) gegeben wurde, so erging ein dem Urteil entsprechendes
Rechtsgebot des Richters.
Im Dienste der Rechtspflege war jedermann verpflichtet, an der Ergreifung handhafter
Missetäter und an der Vollstreckung der Acht oder Friedlosigkeit teilzunehmen.
§8. Die Missetat und ihre Folgen. Das germanische Strafrecht fußt auf dem Gedanken,
daß, wer den Frieden bricht, sich selbst aus dem Frieden setzt. Der Friedensbruch ist entweder
ein solcher, der den Täter nur der Feindschaft des Verletzten und seiner Sippe preisgibt oder
ein solcher, der ihn zum Feinde der Gesamtheit macht. In jenem Falle war es Sache des Ver-
letzten bzw. seiner Sippe, sich Genugtuung zu verschaffen. Der Missetäter wurde von der Ge-
samtheit vor der Sippe, gegen die er den Frieden verwirkt, nicht geschützt, sondern er war von
Rechts wegen der Fehde und Rache des Gegners ausgesetzt, wenn dieser es nicht vorzog, Wer-
geld oder Buße zu fordern. Das Recht der Fehde und Rache, der auch die Blutsfreunde des
Missetäters preisgegeben waren, bestand in Fällen, in denen es sich um Blut und Ehre handelte.
Die in erlaubter Rache vollzogene Tötung mußte öffentlich verkündigt oder allgemein als solche
ersichtlich gemacht werden, widrigenfalls sie als eine unrechtmäßige Tötung behandelt wurde.
In leichteren Fällen war das Recht der Rache versagt und nur ein gerichtlicher Anspruch auf
Sühne begründet. Das Wergeld fühnte namentlich den Totschlag; sonst waren die meisten
bekannten Rechtsverletzungen in Bußzahlen abgeschätzt, die entweder durch Teilung des Wer-
geldes entstanden oder auf eine bestimmte, nach den verschiedenen Rechten verschiedene Grund-
zahl zurückführen. Wenn Buße oder Wergeld gerichtlich eingeklagt wurden, hatte der Schuldige
einen gewissen, bei den einzelnen Stämmen verschiedenartig abgestuften Betrag, das Friedens-
geld, fredus, an die öffentliche Gewalt zu entrichten als Preis für deren Eingreifen zur Wieder-
herstellung des Friedens. Schwere Missetaten machten friedlos. Der Friedlose ist nicht nur
aus der Friedens- und Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen, sondern kann und soll als Feind des
Volkes von jedermann bußlos getötet werden. Die Verfolgung des Friedlosen ist öffentliche
Pflicht der Volksgenossen; er gilt für wolfsfrei, wargus, „gerit caput lupinum“. Er hört von
Rechts wegen auf, Geschlechtsgenosse, Ehemann, Vater zu sein. Weder die Sippe noch seine
nächsten Angehörigen dürfen ihn schützen oder beherbergen. Sein Vermögen verfällt der
Wüstung oder Fronung. Sein Haus wird durch Bruch oder Brand zerstört, das Werk seiner
Hände vernichtet. Seine Habe wird gefront, d. h. eingezogen von der öffentlichen Gewalt,
der sie verfällt, soweit nicht der Verletzte daraus befriedigt wird. Die Friedlosigkeit erscheint
nachmals in einer strengeren und in einer milderen Form. Jene, die ältere und ursprüngliche,
galt für unfühnbar; diese gab dem Friedlosen den Rechtsanspruch, sich durch eine fixierte Geld-
zahlung in den Frieden einzukaufen. Bei schändlichen und sündhaften Taten, die das Volk
und seine Götter direkt verletzten, wurde die Friedlosigkeit in der Weise vollstreckt, daß man den
Friedlosen den Göttern opferte. Der Opfertod stellt sich in dieser Anwendung als eine dem
juristischen Rahmen der Friedlosigkeit eingefügte Todesstrafe dar, deren sakraler Charakter sich