1. H. Brunner, Quellen und Geschichte des deutschen Rechts. 75
darin äußerte, daß nicht eine beliebige, sondern eine genau bestimmte Art der Tötung statt-
fand, die mit Rücksicht auf die religiösen Anschauungen des Volkes bei den verschiedenen todes-
würdigen Verbrechen eine verschiedene war.
Vorwiegend hielt sich das Strafrecht an den äußeren Erfolg der Tat. Der allgemeine
abstrakte Begriff des Versuchs war dem altdeutschen Rechte fremd. Der Versuch war straflos,
soweit nicht einzelne durch einen bestimmten äußerlichen Tatbestand gekennzeichnete Versuchs-
handlungen als selbständige Ubeltaten minderer Strafbarkeit, also formell als vollendete Ver-
brechen, behandelt wurden. Hinwiederum war bei Beschädigungen, die ein generell qualifi-
zierter Tatbestand für die Regel als ungewollt erscheinen ließ, bei sogenannten Ungefährwerken,
Fehde und Friedensgeld von vornherein ausgeschlossen. Das Willensmoment kam also, wenn
Tat und Wille sich nicht deckten, nicht für den Einzelfall, sondern für einen allgemeinen Typus
von Tatbeständen zur Geltung, welchen das Volksrecht entweder trotz mangelnder Beschädigung
das Vorhandensein oder trotz eingetretener Beschädigung das Nichtvorhandensein rechtswidrigen
Willens unterstellte. Abgesehen hiervon, wurden die Strafen in mitunter peinlicher Weise nach
dem Erfolge der Handlung bemessen. Die Außerlichkeiten der Tat entschieden über die Natur
des Verbrechens. So kennzeichnete sich der Totschlag als Mord, wenn der Täter die Spuren
des Verbrechens zu verbergen suchte. Andererseits war die typische Beschaffenheit des bösen
Willens maßgebend für den Begriff der Meinwerke, Meintaten, niederträchtiger Verbrechen,
die aus ehrloser Gesinnung hervorzugehen pflegten.
#§ 9. Der Rechtsgang. Weiten Spielraum hatte neben der gerichtlichen Geltendmachung
des Rechtes die Befugnis der Selbsthilfe, die sich als Fehde zum Zweck der Rache oder als Pfand-
nahme äußerte.
Die Rechtsverfolgung vor Gericht, wie sie uns aus den Quellen der folgenden Periode
als Verfahren nach altem Volksrecht entgegentritt, zeichnete sich durch einen einfachen, aber
strengen Formalismus aus. Das Verfahren war öffentlich und mündlich und ruhte vollständig
auf dem Verhandlungsprinzip. Es bezweckte, soweit es sich um fühnbare Rechtsverletzungen
handelte, an Stelle des Streites einen Sühnevertrag der Parteien zu setzen. Eng begrenzt
war die Autorität des Gerichts; sie wurde zum Teil ersetzt durch den rechtlichen Zwang des
Formenwesens. Ohne Mitwirkung des Gerichts lud der Kläger in förmlicher Weise seinen
Gegner zum Rechtsstreite. Vor Gericht standen die Parteien bei ihren Prozeßreden in unmittel-
barem Verkehr. Durch einen Vertreter zu prozessieren, war der selbstmündigen Partei nicht
gestattet. In feierlichen Worten und unter Anrufung der Götter erhob der Kläger seinen Klage-
vorwurf und beschwor sodann den Beklagten, ihm auf die Klage zu antworten. Als Antwort
wurde nur eine volle Bejahrung oder volle Verneinung der Klageworte betrachtet, mit denen
sie formell genau übereinstimmen mußte, Einwendungen waren somit von der Antwort aus-
geschlossen. Soweit sie später gestattet wurden, gelangten sie als ein rechtmäßiges Verweigern
der Antwort, als Verteidigung gegen das Verlangen der Antwort zum Ausdruck. Durch den
Kläger rechtsförmlich aufgefordert, gaben die Dingleute das Urteil. Dieses war bei den West-
germanen, wenn der Beklagte geleugnet hatte und eventuell zu einer Leistung verbunden war,
ein zweizüngiges Urteil; es war nämlich einerseits Beweisurteil, sofern es die Beweisfrage
regelte, andererseits zugleich Endurteil, sofern es bestimmte, was je nach dem Ausgang des
Beweisverfahrens zu geschehen habe. Es verurteilte z. B. den Beklagten, zu geloben, daß er
schwören oder zahlen werde. Wer mit dem Urteile unzufrieden war, mochte es schelten, d. h.
eine Klage wegen ungerechten Urteils gegen den Urteilfinder einbringen, welche nicht durch
eine sachliche Prlfung des gescholtenen Urteils, sondern durch die formalen Beweismittel des
Rechtsganges, bei manchen Stämmen durch Zweikamp, entschieden wurde. Besondere Grund-
sätze des Verfahrens galten in Achtsachen. Das Urteil konnte da nicht einen Sühnevertrag
der Parteien herbeiführen wollen, sondern nur auf Acht (Tod) oder deren Ablehnung erkennen.
Dem Znhalte des Urteils entsprechend, schlossen die Parteien vor Gericht einen Vertrag,
worin die Beweisführung bzw. die Befriedigung des Gegners angelobt wurde. Den Beweis
erbrachte die Partei der Partei und nicht dem Gerichte. Die Beweismittel waren demnach
formal, so daß ihr Ergebnis einer richterlichen Überprüfung nicht bedurfte. Nach den Rechts-
sätzen, die dem Beweisurteil zugrunde liegen, hatte in der Regel der Beklagte die Beweisrolle.