1. H. Brunner, Quellen und Geschichte des deutschen Rechts. 77
hielten sich die Erwerbungen romanischer und germanischer Volksgebiete in merkwürdiger Regel-
mäßigkeit das Gleichgewicht, so daß es bis zu Ende den gemischten Charakter eines germanisch-
romanischen Staatswesens bewahrte. Mit der Christianisierung der Franken trat eine neue
Macht in ihr Rechtsleben ein, die katholische Kirche, welche die Ausbreitung des fränkischen
Reiches unter Chlodowech und seinen Söhnen wesentlich förderte. Nach dem Tode Chlothars I.
(561) folgte eine Zeit innerer Wirren, hervorgerufen durch Thronstreitigkeiten unter den mero-
wingischen Teilkönigen. Die Bürgerkriege begünstigten das Emporkommen einer mächtigen
Aristokratie, die dem Königtum über den Kopf wuchs. Einen Markstein bildet in dieser Be-
ziehung das Edikt Chlothars II. von 614, wohl auch die Magna Charta des fränkischen Reiches
genannt, weil der König darin den geistlichen und weltlichen Großen eine Reihe von Beschrän-
kungen der königlichen Gewalt und die Beseitigung von Mißbräuchen verbriefte. Etwa seit
der Mitte des 7. Jahrhunderts entstehen allenthalben territoriale Gewalten. Das Reich scheint
aus den Fugen zu gehen. Da gelingt es einer dieser territorialen Gewalten, den Herzogen
von Austrasien, das höchste Reichsamt, die Hausmeierwürde, an ihr Geschlecht zu bringen und,
darauf gestützt, den Widerstand der territorialen Mächte zu brechen, die bedrohte Existenz des
Reiches zu retten und wieder eine starke Staatsgewalt herzustellen. Die formelle Restauration
des Königtums erfolgte, als der letzte Hausmeier sich mit Beseitigung des merowingischen
Königsgeschlechtes von den Franken zum König erheben ließ. Nachdem dann Karl der Große
das fränkische Reich zur germanisch-romanischen Weltmonarchie erweitert hatte, wurde er zu
Weihnachten 800 vom Papst Leo III. zum Kaiser gekrönt und als solcher adoriert, ein Ereignis,
dem die Auflösung des fränkischen Reiches entkeimte. Die Kaiserwürde, welche die kirchliche
Einheit der abendländischen Christenheit zu staatsrechtlichem Ausdruck bringen sollte und daher
begrifflich die Unteilbarkeit der Regierungsgewalt voraussetzte, gab den Anlaß zu Neuerungen,
welche die dieser Idee widersprechenden Grundsätze der herkömmlichen fränkischen Thronfolge-
ordnung zu beseitigen oder doch abzuschwächen suchten. Diese Versuche führten die inneren
Kämpfe herbei, die unter Ludwig I. und seinen Söhnen das Reich zerrütteten. Sie blieben
erfolglos, denn im Vertrage von Verdun (843) wurde das Reich wieder gemäß der altfränkischen
Teilungssitte geteilt. Andererseits haben sie die Kraft des Reiches so sehr geschwächt, daß es
trotz vorübergehender Vereinigung der Teilreiche seinen Aufgaben im Inneren und den äußeren
Feinden nicht mehr gewachsen blieb und schließlich in fünf kleinere Reiche auseinanderfiel.
Eines davon bildeten die rein deutschen Stämme, die sich im November 887 den Karolinger
Arnulf zum König setzten. Seit dieser Zeit gab es ein Deutsches Reich.
§ 11. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen der Rechtsbildung. Die
Berührung mit der römischen Kultur, die Annahme des Christentums, die Erwerbung römischen
Gebietes, die Erstarkung der königlichen Gewalt und die Wirkungen der Aufteilung des Ackler-
landes brachten tiefgreifende Anderungen in den wirtschaftlichen Verhältnissen des Volkes
hewor. Die durchschnittliche Gleichförmigkeit der Grundbesitzverhältnisse verschwand. Eine
Landteilung haben die Franken mit den römischen Provinzialen nicht vorgenommen. Durch
die Eroberungen wurde zunächst nur der König großer Grundbesitzer, da er die römischen Fiskal-
güter an sich zog, allein durch ihn wurden es getreue Franken, die er für geleistete Dienste mit
Grund und Boden belohnte. Die Adligen mochten sich vielfach von vornherein, wenigstens
bei einzelnen Stämmen, vor den Gemeinfreien durch größeres Besitztum ausgezeichnet haben.
Die Kirche, die man in Gallien als Großgrundbesitzer vorfand, setzte sich in dieser Eigenschaft
auch in den deutschen Stammlanden fest. Der Gegensatz zwischen dem grundbesitzenden Adel
Galliens, den senatorischen Geschlechtern und einem landlosen Proletariat übte schließlich seine
Rückwirkung auf die Verhältnisse bei den Germanen. Das Recht der Rodung mußte allmählich
zu einer Verschiebung der Besitzstände führen, da nur den Reicheren die Verfügung über eine
größere Zahl von Arbeitskräften die Mittel bot, die Gewinnung von Neuland durch Rodung
im großen Stile zu betreiben. Wie somit einerseits ein großer Grundbesitz entstand, wurde
andererseits der Normalbesitz verringert, da er die auf ihm haftenden öffentlichen Lasten nicht
mehr zu tragen vermochte und vielfach in grundherrliche Abhängigkeit geriet. Der große Grund-
besitz bildete entweder einen geschlossenen Grundkomplex oder — was in den deutschen Stamm-
landen die Regel war — sogenannten Streubesitz, indem er sich aus vielen in verschiedenen