Bürgerliches Recht. 9
Gesetzesrechts völlig zu verlassen. Das Schweizer GB., auch hier vorbildlich, beginnt in lapidarer
Art mit den Sätzen:
Art. 1. Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder
Auslegung eine Bestimmung enthält.
Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheits-
recht, 1 und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen
würde.
Er folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung.
Art. 2. Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten
nach Treu und Glauben zu handeln.
Der offenbare Mißbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
Art. 4. Wo das Gesetz den Richter auf sein Ermessen oder auf die Würdigung der Umstände
oder auf wichtige Gründe verweist, hat er seine Entscheidung nach Recht und Billigkeit zu treffen.
Diese Sätze gelten auch bei ons, sie sind nur durch das Gesetzbuch zerstreut. Das Verbot
des Schikanehandelns findet sich in § 226, die Auslegung der Verträge (richtiger sollte es heißen
der Rechtsgeschäfte) nach Treu und Glauben in § 157 und in § 2422; die Geschäfte gegen die
Sittlichkeit werden gebrandmarkt in §138, und in §826 haben wir eine Bestimmung, welche ähnlich
wie Art. 2 des Schweizer Gesetzbuches über die hölzerne Art der bisherigen Rechtslübung hinweghilft.
Wie richtig dies ist, hat die bisherige Praxis gezeigt: die genannten Bestimmungen sind die
Ausgangspunkte der Rechtsneubildung geworden. Dazu tritt die richtige Auslegung des
Gesetzes: die Auslegung nach der Rechtsvernunft, d. h. nach der unseren Kulturzwecken ent-
sprechenden Ordnung der menschlichen Verhältnisse 3.
3836. Das BE#. will das bürgerliche Recht Deutschlands vollkommen regeln, nicht nur
einzelne Materien; im Gegenteil: nur wo eine Materie ausdrücklich ausgenommen ist, läßt es
das Landesrecht walten, Art. 55 f. EGG. Dessen Gültigkeit muß daher aus dem Reichsrechte erwiesen
werden; wo aber ein solcher Fall vorliegt, bleibt nicht nur das Landesrecht, soweit es gilt, bestehen,
sondern es kann auch neue Normen schaffen (Art. 3 EG.). Dem Landesrecht sind besonders solche
Materien überlassen, bei welchen ein Anschluß an die örtlichen Verhältnisse, Bräuche und An-
schauungen oder ein Anschluß an Verwaltungs- und Polizeinormen wünschenswert ist. Diese
Hingabe an das Landesrecht geht vielfach zu weit: Materien, die das Schweizer Gesetzbuch vor-
züglich geordnet hat, sind auf solche Weise ungeregelt geblieben 4.
Zweites Buch.
Grundgedanken.
§ 7. Das BGB. geht von der Privatrechtsordnung aus, d. h. von der Ordnung,
wonach das Vermögen, also die Gesamtheit der den Menschen dienenden Gegenstände, dem
Einzelwesen zukommen könne; im Gegensatz zu der kommunistischen Ordnung, wonach das
Vermögen nur ein Gesamtvermögen des Stammes oder der Familie sein kann. Es geht ferner
von dem Satze aus, daß das Einzelwesen, wenn auch nicht unbedingt, so doch in einem weiten
Kreise über dieses Vermögen verfügen, d. h. Anderungen in seiner Rechtsstellung vornehmen
kann. Das wirtschaftliche Leben ist daher vielfach ein einzelwesenhaftes (individuelles). Diese
einzelwesenhafte Gestaltung schließt allerdings das Vorhandensein sozialer (gesellschaftlicher)
Bildungen nicht aus; sie schließt nicht aus, daß 1. große Vermögensmassen der einzelwesenhaften
" Diese- Stellung des Gewohnheitsrechts im Schweizer Gesetzbuch ist fehlerhaft, hier ist das
deutsche BG. besser, E. Art 2. Wenn man hundertfach sich bemüht, das Gewohnheitsrecht zu
verkümmern, hundertfach wird es mit neuen Kräften wieder erstehen. Vgl. meinen Aufsatz: Eugen
Huber und das Schweizer 86., Rhein. Z. V S. 4
* Man hat hier vielfach mit der Denkform der stillschweigenden Willenserklärung hantiert;
vgl. auch Henle, usdrückliche und stillschweigende Willenserklärung (1910) S. 30f., Danz
in Jahrb. f. Dogm. 54 S. 1
* Über die eeteenn rgt. Lehrb. I S. 122 (und schon Grünhut XIII S. 1). Neuer-
dings Kiß, Jahrb. f. Dogmat. 58 S. 413 f. Über die Freirechtsbestrebungen orientiert Oert-
mann, — und gesellschaftliche Rechtsbildung, Arch. f. b. Recht 40 S. 70 f.
4 Z. B. das Quellenrecht, über welches zu vergleichen Schweizer 86 B. a. 704—710.