Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Zweiter Band. (2)

270 L, von Bar. 
II. Geschichtliche Entwicklung. 
§ 52. 1. Altertum. Im Altertum herrschte im internationalen Strafrecht die 
Konsequenz des Racheprinzips. Der Staat, der selbst oder dessen Bürger im Auslande oder 
durch einen Ausländer verletzt war, galt als ausschließlich zuständig, an dem Schuldigen Rache zu 
üben, was denn auch in der Form der Anwendung der üblichen Strafe geschehen konnte, während 
das Strafgesetz als Gesetz nur die Angehörigen desjenigen Staates verpflichtete, der das über- 
tretene Strafgesetz erlassen hatte. Die Bestrafung (das Rachenehmen) setzte selbstverständlich 
voraus, daß der selbst oder in der Person seines Angehörigen verletzte Staat den Schuldigen 
in seine Gewalt bekam. Dies geschah nicht selten durch Auslieferung seitens desjenigen Staates, 
in dessen Gebiete der Schuldige sich aufhielt, und so sind — namentlich war dies römische Praxis — 
von einem Staate auch eigene Angehörige einem anderen Staate zur Bestrafung ausgeliefert 
oder angeboten worden, wenn die Gerechtigkeit des Strafanspruchs anerkannt wurde. Ein der- 
artiges internationales Strafrecht konnte ausreichen, solange nur unmittelbar körperliche 
Schädigungen und Beraubungen und Kriegsverrat oder Gebietsverletzungen in Betracht kamen. Es 
konnte ja auch selbstverständlich in dieser Beschränkung, wer innerhalb eines fremden Gebietes 
einen Angehörigen dieses Gebietes verletzte oder eine dem dortigen Staat gefährdende Hand- 
lung beging, dort bestraft werden, sofern man ihn festhielt, und insoweit kann allerdings 
von einem Territorialitätsprinzip geredet werden. Aber in Rom sind manche Strafgesetze 
erst später auf Peregrinen erstreckt worden, insbesondere Strafgesetze, die eine unmittelbar 
sittliche Bedeutung hatten: wenn z. B. Fremde die Luxusgesetze nicht beobachteten, so kümmerte 
das die Römer nicht. In der Folge, als Angehörige verschiedenster Nationen massenweise in 
Rom und den Kulturprovinzen des römischen Reichs zusammenströmten, hat man allerdings 
die Anwendung der Strafgesetze auf Ausländer für selbstverständlich erachtet, und zur Zeit des 
Juristen Paulus galt der Gerichtsstand des Ortes der Begehung der Tat ohne Rücksicht auf die 
Herkunft des Schuldigen und damit für diesen zweifellos auch das römische Strafrecht (D. 1, 
18, 3). Da das römische Recht in der Kaiserzeit den gesamten Erdkreis, soweit er als Kultur- 
welt in Betracht kam, umfaßte, so ergeben die justinianischen Rechtsquellen über internationale 
Anwendung des römischen Strafrechts im übrigen nichts. Von Auslieferung von Römern 
an andere Staaten war keine Rede mehr, während es wohl als selbstverständlich galt, 
daß Römer auch außerhalb der Grenzen des Reichs den römischen Strafgesetzen unter- 
worfen blieben. 
§ 53. 2. Mittelalter. Die Vereinigung verschiedener Völker und Volksstämme 
in demselben Staate führte im Mittelalter ebenso wie im Privatrecht zur Anwendung des persön- 
lichen Rechtes. Soweit der Gesichtspunkt der Entschädigung maßgebend war, entschied das 
Recht des Verletzten, also namentlich für das Wergeld im Falle der Tötung, soweit dagegen 
die Strafe eine öffentliche war, das Recht des Täters. Aber schon im 9. Jahrhundert beginnt 
das Recht des Tatorts durchzudringen, und bei den Postglossatoren, unter denen Bartolus! 
auch für das internationale Strafrecht besonders wichtig ist, wird die Frage des internationalen 
Strafrechts in erster Linie zu einer Frage des Gerichtsstandes, da man das römische Recht als 
das überall geltende Weltrecht betrachtet. Das Gericht des Tatorts ist zuständig; anfangs be- 
zweifelt, später allgemein angenommen wird, daß der Schuldige, der nicht am Tatorte bestraft 
ist, in seiner Heimat bestraft werden kann. Die Frage des materiellen internationalen Straf- 
rechts tritt nur hervor bei partikularen Strafstatuten, welche die italienischen Städte allerdings 
in mannigfacher Weise erließen. Für solche Strafbestimmungen galt die Annahme, daß der 
Fremde, welcher sich im Territorium aufhielt, dem dortigen Strafrechte sich unterwerfe, aber 
eintretendenfalls auf entschuldbaren Irrtum sich berufen könne. Den Einheimischen kann 
das Statut auch außerorts binden; es kommt darauf an, ob solche Bindung nach dem Sinne 
des einzelnen Statuts anzunehmen ist. Vagabunden und gewisse gemeingefährliche Ver- 
brecher straft man häufig ohne Rücksicht aus Tatort und Herkunft des Schuldigen. Nicht selten 
legt sich eine Stadt aber auch Strafzuständigkeit bei, wenn auswärts ein Bürger von einem 
1 Meili, Bartolus als Haupt der ersten Schule des internationalen Strafrechts. Zürich 1908.
	        
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