Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Zweiter Band. (2)

42 J. Kohler. 
verteidigung des Besitzers beruht auf dem Grundsatze der Friedensordnung: Niemand 
soll in seinem Besitz gestört werden, und wenn eine solche Störung versucht wird, darf sich der 
Besitzer dagegen wehren. Wie man also auf der einen Seite die Selbst hilfe als in Widerspruch 
mit der Friedensordnung erklärt hat, so auf der anderen die Selbstverteidigung als 
Ausfluß und Folgerung eben dieser Friedensordnung; und gerade darin liegt der wesentliche 
Charakter des Besitzes: wer Besitzer ist, darf sich wehren (§§ 227, 859). Ubrigens hat unser Recht 
diesem Satze noch die weitere Folgerung gegeben, daß, auch wenn der Besitzer bereits verdrängt 
ist, er sich immer noch wehren kann, sofern er es nur sofort tut, so daß man Besitzentsetzung und 
-wiedererlangung gleichsam als einen Vorgang behandeln kann, der so zu betrachten ist, als 
ob der Besitz niemals verloren worden wäre. Man darf das Zeitliche im Recht nicht auf 
die Weise übertreiben, daß man dem kurzen Augenblick des Besitzverlustes eine grundsätzliche 
Bedeutung beimäße, während er doch ohne Einfluß auf die wirtschaftliche Lage gewesen ist 1. 
Noch weiter geht unser Recht in diesem Gedanken, wenn es sich um die klageweise Geltendmachung 
des Besitzes handelt. Hier herrscht der Satz, daß zwar im Grunde genommen jeder des Besitzes 
Entsetzte die Wiedereinsetzung verlangen kann; doch soll eine Ausnahme gelten, wenn der des 
Besitzes Entsetzte selbst seinerseits vor weniger als einem Jahr den Beklagten entsetzt hatte: in 
diesem Falle ist der Beklagte dieser Besitzklage gegenüber in der Art geschützt, daß er die Fort- 
dauer seines Besitzes verlangen kann. Auch hier wird die Entsetzung und Wiedereinsetzung ge- 
wissermaßen so behandelt, als wenn eine Entsetzung niemals stattgefunden hätte (§ 861). 
Der Besitzer hat ein Recht nicht nur gegen den Entsetzer, sondern auch gegen seine Erben 
und gegen denjenigen, der von ihm mit dem Bewußtsein erworben hat, daß dessen Besitz auf 
einer Entsetzung, d. h. auf verbotener Eigenmacht, beruht. Dies ist ein wichtiger Grundsatz des 
deutschen Rechts; man spricht hier von Spolienklage: Besitzentsetzung ist spolium, und die Klage 
geht gegen den Spoliator und denjenigen, der von ihm bösgläubig erworben hat: auch dieser 
ist in der Sprache unseres Gesetzes ein fehlerhafter Besitzer (§ 858). 
II. Selbständige Rechte an Sachen. 
1. Allgemeines. 
§ 30. Die Sachenrechte sind entweder Substanz= oder Wertrechte. Das Substanzrecht 
zielt dahin, eine Sache nach ihren individuellen Vorteilen und Gestaltungen der menschlichen 
Wirtschaft oder der menschlichen Kultur dienstbar zu machen; es verfolgt die Sache nach allen 
Richtungen ihrer kulturellen Wesenheit hin und kann sich als mehr oder minder bedeutsam er- 
weisen, je nachdem die Sache größere oder geringere Erträge liefert. Das normale Recht dieser 
Art ist das Eigentum. Eine frühere Theorie stellte das Eigentum als ein absolutes Recht auf 
und zeitigte die sonderbare Vorstellung des jus utendi abutendi; aber die Befugnis des Mißbrauchs 
ist niemals ein Recht. Allerdings kann die Rechtsordnung jemandem. Befugnisse gewähren, 
ohne ihn einer näheren Kontrolle zu unterwerfen, so daß die mehr oder minder zweckmäßige Art 
der Benutzung nicht weiter in Betracht gezogen wird: ein derartiger Benutzungsrahmen ist 
dem Berechtigten gestattet, um ihn in voller Freiheit walten zu lassen und nicht in Fesseln zu 
legen; allein ein Recht des Mißbrauchs wäre eine Abnormität. Sobald der Mißbrauch solche 
Dimensionen annimmt, daß hierdurch die Kulturinteressen gefährdet oder gestört werden, tritt 
die staatliche Ordnung hervor und legt ihr Veto ein. 
Aus diesem Grunde und wegen der vielen Zusammenhänge verlangt der Gebrauch der 
Sachen eine Regelung; namentlich kann kein Grundeigentum bestehen, ohne daß eine staatliche 
Ordnung Bestimmungen trifft. Vor allem wird die Polizeigewalt im Interesse der vielseitigen 
Gemeinschaftsinteressen berechtigt sein müssen, da und dort einzuschreiten. Welches die Grenzen 
dieser Polizeigewalt sind, ist nicht im einzelnen festzusetzen, sondern muß nötigenfalls von den 
Verwaltungsgerichten nach der Frage entschieden werden, ob die öffentlichen Interessen oder 
das Interesse der Freiheit des Einzelnen vorgehe 2. 
1 Lehrbuch 1 S. 207 f.; vgl. auch Schweizer 8 B. a. 926. 
* Preuß. Oberverwaltungsgericht 22. Dezember 1911 Entsch. 60 S. 310; frühere Entschei- 
dungen ebenda 33 S. 413, 36 S. 401, 39 S. 400, 40 S. 398 u. a. Vgl. auch Stier-Somlo,
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.