J. Kohler. Bürgerliches Recht. 5
teilt, zerstückelt, nicht nur trug unser bisheriger Rechtszustand die Keime der Entzweiung in
sich, was sich schon darin kundgab, daß die Gebiete des französischen Rechtes sich in ihren wissen-
schaftlichen Bestrebungen nach Frankreich hin neigten, während das Preußische Landrecht
nicht imstande gewesen war, eine weitschauende Jurisprudenz zu entwickeln, die sich einigermaßen
mit der Lehre des Code Napoléon messen konnte. Auf der anderen Seite war die Romanistik
im 19. Jahrhundert unserem Rechtsleben geradezu gefährlich geworden; denn während frühere
Perioden sich das römische Recht assimilierten und ihrem Wesen anpaßten, sollte es jetzt so gelten,
wie es sich in Rom entwickelt hatte, und so, wie es Justinian festgesetzt, sollte es bei uns
Gesetzeskraft haben. Die guten Zeiten der Postglossatoren, bei denen das deutsche Recht in das
corpus juris hineinfloß, und die guten Zeiten des usus modernus pandectarum, welche sich in
kräftiger Weise mit dem römischen Rechte abfanden, waren dahin. Anstatt daß man das corpus
juris nach unseren Gedanken interpretierte, interpretierte man es jetzt nach seinen eigenen Ge-
danken. Man lernte das reine römische Recht kennen, und Männer wie Vangerow glaubten
in schrecklicher Verblendung, auch noch für das 19. Jahrhundert das reine römische Recht als
geltendes Recht verteidigen zu können, und in Windscheid fand das Bestreben, möglichst
das reine römische Recht in scholastischer Weise zu einem gegliederten Denkabschluß zu bringen,
seine letzte Entwicklung. Ein weiteres Walten des römischen Rechtes wäre für uns alle ver-
derblich gewesen. Was wir vom Standpunkte unserer modernen Zeit, unseres modernen Rechts-
bewußtseins und unserer eigenen schöpferischen Kraft aufstellten, wurde mit dem Satze nieder-
geschmettert: das finde sich nicht im corpus juris, und es sei nicht unser Amt, Recht zu schaffen,
noch weniger könnten wir unserem Rechtsbewußtsein irgendwelche Kraft und irgendwelchen
Einfluß auf die Rechtsbildung einräumen.
Das deutsche Recht, dessen Studium in erfreulicher Weise im Aufblühen stand, war fern
davon, in der Dogmatik des Rechtes mit den Pandekten wetteifern zu können, es beschäftigte
sich mehr mit geschichtlichen Fragen. Die deutsch-rechtlichen Gedanken, die in der Pandekten-
praxis der vorigen Jahrhunderte eine so trauliche Stellung gefunden hatten, waren nun einsam
und verwaist. Allmählich brachte man sie an die Oberfläche, und nach verschiedenen Seiten hin
wurde das Walten moderner Ideen im heutigen Recht nachgewiesen. Allein da sich ein Gerichts-
gebrauch nur schwer dartun ließ, und zwar das römische, nicht aber das deutsche Recht ohne
weiteres als angenommen und „rezipiert“ galt, so war man in bezug auf diese Ideen in
schwerer Bedrängnis, und die Germanistik war so sehr in antiquarische Forschung versenkt, daß
diese Entdeckungen bei ihnen oftmals keine große Gegenliebe fanden 1.
Das Streben nach Kodifikation hatte zur Partikulargesetzgebung geführt, einem schon
an und für sich sehr unerquicklichen Zustand; aber auch, was hier erzeugt wurde, war durchaus
nicht immer hervorragend. Zwar hatte das französische Recht in der Abfassung und im Inhalt
große Vorzüge, aber es ist, wie bereits gezeigt, immerhin ein mißlicher Zustand, einen Teil des
Volkes in bezug auf seine Rechtsauffassung nach dem Auslande zu verweisen. Das preußische
Landrecht aber, das sich anheischig machte, nicht bloß das Zivilrecht samt dem Handelrecht,
sondern auch das öffentliche Recht in seinen Kreis zu ziehen, war ein Erzeugnis kleinbürgerlicher
naturrechtlicher Ideen des 18. Jahrhunderts, ohne Schwung in seiner ganzen Anlage, ohne
großen Zug, mit einer erdrückenden Kasuistik und getragen von der Idee, als ob man durch
scharfe Reglementierung die großartigen Interessen der Menschheit aufbauen könne, die nur
in einer gewissen Freiheit des Geistes zu gedeihen vermögen. Und zu dieser Freiheit gehört
insbesondere auch, daß Rechtswissenschaft und Rechtspflege einen gewissen Spielraum haben,
um den wechselnden Bedürfnissen der Zeit zu genügen und den Anforderungen der jeweiligen
Gegenwart zu entsprechen. Das, was die Rechtsentwicklung auf dem Gebiete des preußischen
Landrechtes geleistet hat, war darum nicht immer erfreulich: eine großartige Rechtsprechung unter
Ich darf hier an meine Entdeckung des Dispositionsnießbrauchs, an meine Arbeiten über
Annahmeverzug und die Pertinenzen erinnern, schließlich auch an die Arbeiten über Wertrecht und
die verschiedenen Gemeinschaftsformen. Von germanistischer Seite hat man diese der praktischen
Geltung deutscher Rechtssätze zustrebenden Ideen recht stiefmütterlich behandelt, während man ge-
schichtlichen Ideen, die unser Recht längst überholt hat, wie der Idee des Unterschieds von Schuld
und Haftung, eine ganz ungemessene Bedeutung zuschrieb und sie auch für das moderne Recht
verwerten wollte, sehr zu seinem Nachteil.