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8 8. Der Prozeß als Parteiprozeß ist nur ein Verhältnis unter den Parteien, nicht ein
Verhältnis zwischen Parteien und Gericht, und völlig abwegig ist es, von einem Rechtsschutz-
anspruch zu sprechen, kraft dessen die Partei durch Beginn des Zivilprozesses den Richter zwinge,
zu ihrem Schutze tätig zu sein, so daß der Richter mitten in das Rechtsverhältnis hineingezogen
würde und der Partei gegenüber ebenso rechtlich gebunden wäre wie der Gegner 1. Das ist
ebenso unrichtig, wie wenn man bei sonstigen Staatstätigkeiten annehmen wollte, der Staat
sei dem einzelnen gegenüber verpflichtet, auf seinen Wunsch hin etwa zur Testaments-
errichtung mitzuwirken, oder auf seinen Wunsch hin zur Eheschließung seinen Beistand zu geben,
oder ihm im einzelnen Fall den polizeilichen Schutz angedeihen zu lassen. Das beruht auf einer
völligen Verkennung der staatlichen Tätigkeit, als ob der Staat etwa ein großes Lokal und die
Staatsbeamten die Diener wären, die man nur herbeizuläuten brauchte und etwa auszanken
dürfte, wenn sie nicht sofort zu Willen sind.
Wenn man uns entgegenhalten will, daß wir damit einer autokratischen Stellung des
Staates das Wort sprächen und das Recht des einzelnen verkümmerten, so müssen wir erwidern,
daß ein derartiger Vorwurf auf dem gröbsten aller Mißverständnisse beruht. Wer einer der
Schöpfer der modernen Persönlichkeitstheorie ist, der ist gegen den Vorwurf gefeit, als ob er das
Persönlichkeitsrecht im Prozeß in Abrede stellen wollte: die Befugnis zur Klage und zu anderen
Prozeßhandlungen ist ein Ausfluß des Persönlichkeitsrechts, dessen Verletzung die gebührende
rechtliche Reaktion findet; dieses Persönlichkeitsrecht aber in einem Anspruch gegen den
Staat auf Staatstätigkeit zu entstellen, ist die gröbste Mißgestaltung des Anspruchsbegriffes,
die mit dem dinglichen Anspruch gegen jedermann auf gleicher Stufe steht.
Zwar hat man noch folgendes geltend zu machen versucht: der Rechtsschutzanspruch sei
nicht ein abstrakter, sondern ein konkreter; nicht jeder Mensch habe eine Klagebefugnis, sondern
nur derjenige, der wirklich einen zivilrechtlichen Anspruch hat. Mit dieser Unterscheidung aber
wird dem ganzen Prozeß der Lebensfaden abgeschnitten; denn eine richtige Gestaltung des
Prozesses ist nur dann möglich, wenn zunächst bei der Beurteilung der Staatstätigkeit ganz
außer Betracht bleibt, ob die Partei recht oder unrecht hat, weil der Staat seine Prozeßtätigkeit
in dem einen wie dem anderen Falle in gleicher Weise darbieten muß. Und daß der Staat, wenn
er von meinem Recht überzeugt ist, ein mir günstiges, sonst ein mir ungünstiges Urteil gibt, ist
zwar völlig richtig, in keiner Weise aber ein Beweis für einen Rechtsschutzanspruch; denn es
beruht nur eben einfach darauf, daß der Richter gehalten ist, Recht zu sprechen, wie es seine
Überzeugung gebietet. Dasselbe gilt ja auch vom Schiedsrichter, und man kann gewiß nicht
sagen, daß der Berechtigte als solcher dem Schiedsrichter gegenüber einen Rechtsschutzanspruch
habe; man hat ihm gegenüber nur das Recht aus dem Vertrage, daß er als Schiedsrichter tätig
ist (weil er als Privatmann keine öffentliche Pflicht der Gerichtsleistung hat); man hat dieses
Recht aus dem Schiedsvertrag, gleichgültig, ob man in der Hauptsache recht hat, ob ein zu
schützendes Recht besteht oder nicht.
2. Geschichtliche Entwicklung.
§ 9. Wie jede Rechtserscheinung, so kann auch unser Zivilprozeß nur geschichtlich erkannt
werden.
Der Prozeß der deutschen Zivilprozeßordnung ist nicht aus dem gemeinen Prozeß hervor-
gegangen, so wie dieser sich vom 16. Jahrhundert an in Deutschland entwickelt hatte. Er ist
vielmehr durchdrungen von den Prinzipien des französischen Prozesses, und diese sind nichts
anderes als die Grundsätze des kanonischen Prozesses, wie er sich aus dem Zusammenstoß des
römischen und germanischen Rechtes gebildet hat.
Der germanische Prozeß, wie er bei Aufnahme des römischen Rechtes gestaltet war, wäre
unfähig gewesen, dem Kulturbedürfnis zu entsprechen. Er zeigte einen Formalismus, der un-
erträglich wurde: unter lauter uns ganz unverständlichen Formen wurde die Hauptsache ver-
nachlässigt; das Beweissystem war ein unserem neuzeitigen Denken ganz widersprechendes:
Wo diesen Rechtsschutzanspruch anknüpfsen? Goldschmidt hat dafür (Festgabe für
Hübler S. 88 f.) ein eigenes materielles Justizrecht ersonnen, das zwischen Himmel und Erde
schwebt. Dafür haben wir keine Position.