Zivilprozeß- und Konkursrecht. 261
es beruhte noch auf der Grundlage des Gottesgerichts. Der Prozeß mußte daher, wenn er dem
Kulturbedürfnis entsprechen wollte, eine durchgreifende Anderung, eine Umwälzung, nicht
etwa bloß eine Reform erfahren.
Er hätte sich natürlich auch ohne das römisch-kanonische Recht umgestalten können, wenn
wir in Deutschland eine ruhige Entwicklung des Königsgerichts gehabt hätten, wobei das Königs-
gericht als Billigkeitsgericht allmählich die Härten ausgeglichen hätte. So war es in England.
Aber auch hier war die Entwicklung nicht vom römisch-kanonischen Prozeß verlassen, denn in der
Equity ist dieser auswärtige Einfluß mächtig gewesen. Im übrigen hat der englische Prozeß,
wie er sich seit 1852 und 1873 umgestaltet hat, zahlreiche ausgezeichnete Bildungen gezeitigt,
ohne deren Kenntnis der Zivilprozessualist eine kleinliche Kirchturmsjurisprudenz treibt.
Die Aufnahme des römischen Prozesses erfolgte zunächst bei den geistlichen Gerichten.
Wir finden in Deutschland bei diesen schon im 14. Jahrhundert die romanische Form; sie wurde
allmählich für die weltlichen Gerichte maßgebend, und im 15. und 16. Jahrhundert romanisierte
man den Prozeß in den deutschen Städten. Aber schon früher hatte sich in Italien, unter Ab-
änderung des langobardischen Rechtes, das römisch-kanonische Verfahren in die Stadtrechte
eingeführt; auch in Südtirol treffen wir im 12. Jahrhundert heimisches und kanonisches Recht
nebeneinander 1. Allerdings nahm man auch hier unbewußt eine Reihe von germanischen
Ideen mit in Kauf. Eine dieser Ideen war die der Mitwirkungspflicht des Beklagten und die
Jedee, daß der Beklagte sich dem Verfahren und dem Urteil unterwerfen müsse: so entstanden
die merkwürdigen Formen des Versäumungsverfahrens, wonach der Beklagte durch die ver-
schiedensten Mittel, durch Exkommunikation, Vermögenseinweisung u. a., zum Erscheinen ge-
nötigt werden sollte; Formen, die heutzutage alle weggefallen sind, sich aber anderwärts als
fruchtbringend erwiesen haben.
Eine andere germanische Einwirkung ist die Eigenheit der Urteilsbildung. Nach germani-
schem Rechte war jede Entscheidung Urteil, und jedes Urteil konnte gescholten, d. h. für un-
gerecht erklärt werden. An Stelle dieser Schelte trat später die Berufung, und so entwickelte
sich der Satz, daß auch sogenannte Zwischenurteile berufungsfähig seien, ein Satz, mit dem die
Folgezeit gerungen hat und den man allmählich mehr oder minder zu beseitigen suchte.
Der römisch-kanonische Prozeß war daher eine Verbindung des römischen mit dem ger-
manischen Recht; des römischen Rechts, dessen Ideen teilweise frisch und lebendig, teilweise
aber auch alt und verknöchert waren, so vor allem die Idee der sogenannten notwendigen oder
feierlichen Terminfolge: der Prozeß mußte nach dem romanischen Recht jener Zeit in festen
Stufen vor sich gehen; diese Stufen waren vertreten durch ebenso viele Termine; kein Termin
durfte übergangen, keiner mit dem anderen verschmolzen werden. Diese feierliche Termin-
folge hatte etwas ungemein Schleppendes und Formalistisches; sie entsprach dem bureau-
kratischen Wesen der spätrömischen Zeitz sie entsprach nicht den Bedürfnissen einer aufkeimenden
neuen Kultur, und darum hat man in Italien diesen Prozeßsatz allmählich ausgegeben. Das
berühmte Grundgesetz des Prozesses, das die Axt an die Wurzel legte, rührte vom päßpstlichen
Stuhle her; es war das Gesetz von Clemens V., die Clementina Sacpe von 1306. Schon
seit dem 12. Jahrhundert gab der Papst den von ihm delegierten Richtern häufig die Befugnis,
einfach und ohne Umschweife, simpliciter und de plano, zu entscheiden: dies war das Verfahren
de plano, de piano, de plain, wie wir es auch in Frankreich finden 2. Man wollte damit sagen,
1 Römisch-kanonisch war das Verfahren bei dem Gerichte des podestä in Florenz schon im
13. Jahrh., vgl. die Urteile bei Sabatini, Docum. dell’ antica costituzione di Firenze, z. B.
v. 1244 p. 313; über das Positionalverfahren in Verona p#gl. den Prozeß v. 1240 zwischen
S. Stefano und S. Giorgio in Biancolini, Chiesc di Verona 1V, p. 746; in Rom (1363)
vgl. die Statuten 1 8 ff., II 79, 138, in Ravenna (I5. Jahrh., Mon. ustor. pert. alle bront.3 di
Romagna p. 55), in Teramo (1440) II 3 und 4, in Castellarquato (14456) 11 1; in
Parma, in Virenza, auch in den übrigen italienischen Städten, vgl. Lattes, Diritto con-
suetudinario p. 92 f.; über Südtirol vgl. Woltelini, Acta Tirolensia II p. CXXXII ff., über
Frankreich Tardif, procédure civile au XIII et XIV siècle p. 110 f. Über die Entwicklung in
Böhmen, bei welcher Kaiser Karl IV. einen wesentlichen Einfluß ausübte, vgl. Ott, Beiträge zur
Rezeptionsgeschichte S. 164 f.
! Vxgl. die Ordonnanz Philipp IV. für Toulouse v. 1303 a. 13. Über das Verfahren de plano
bei den französischen Marktgerichten, namentlich in der Champagne, vgl. Huvolin, Essai sur
le droit des marchés p. 394, 418.