270 J. Kohler.
In diesen Beziehungen fehlt es auch den ordentlichen Gerichten an Gerichtsbarkeit (5 18f.
GVG.).
Die Sondergerichte aber haben nur eine beschränkte Gerichtsbarkeit, und wenn
sie darüber hinausgehen, so ist ihre Tätigkeit nicht mehr eine richterliche.
Sondergerichte sind
1. die gewöhnlichen Sondergerichte, nämlich die in manchen Staaten
bestehenden Gemeindegerichte, femer die Landeskulturgerichte, die Rheinschiffahrts= und Elb-
zollgerichte; dicse vier Gerichte beruhen auf Landesgesetz;
2. die judicia parium, d. h. die Standesgenossengerichte, nämlich
a) die Gewerbegerichte kraft des Gewerbegerichtsgesetzes (neue Fassung in Bekannt-
machung vom 29. September 1901),
b) die Kaufmannsgerichte nach Reichsgesetz vom 6. Juli 1904;
3. die Konsulargerichte, die in ausländischen Staaten (Türkei, Persien, Siam,
China) auf Grund besonderen völkerrechtlichen Abkommens über Landesgenossen zu urteilen
haben (auf Grund des alten Personalitätsprinzips). Keine Sondergerichte sind die Kolonial-
gerichte: sie sind Gerichte mit Zuständigkeit für die Kolonien.
Die ordentlichen Gerichte und die judicia parium stehen einander insofern gleich, als sie
regelmäßige Streitsachen des Lebens zu erledigen haben, und die judicia parium scheiden sich
nur dadurch von den Gerichten aus, daß sie besondere soziale Ausgaben erfüllen.
Die Zivilprozeßordnung stellt in § 505 den Grundsatz auf, daß, wenn eine Sache an
das unzuständige Gericht kam, das unzuständige Gericht sie an das zuständige mit bindender
Kraft verweisen soll, wodurch alle widerwärtigen und sozial verwerflichen Kompetenz-
streitigkeiten beseitigt werden sollen. Denselben Grundsatz spricht auch der § 16 des Kauf-
mannsgerichtsgesetzes für das Verhältnis zwischen Kaufmannsgericht und Gewerbegericht aus.
Daraus ist ohne weiteres zu schließen, daß auch im Verhältnis zwischen dem ordentlichen Ge-
richte und den judicia parium eine solche Verweisung stattfindet. Warum soll hier das Prinzip
nicht gelten? Warum sollen alle Mißlichkeiten heraufbeschworen werden, die durch eine reguläre
Verweisung gehoben werden sollen? Bei der formalistischen Art, wie der Zivilprozeß bisher
behandelt wurde, ist allerdings die entgegengesetzte Ansicht die vorherrschende 2.
§ 15. In einem Bundesstaat kann die Gerichtsbarkeit vom Bunde wie von den Einzel-
staaten ausgehen. So z. B. in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo es Staatengerichte
und Bundezgerichte gibt, und wo die Bundesgerichte speziell über solche Sachen urteilen, welche
der bundcsgerichtlichen Gesetzgebung unterstehen. Es gibt daher in Amerika Bundesgerichte
erster und höherer Ordnung. In Deutschland wie in der Schweiz sind die Gerichte erster
Instanz, wenigstens in Zivilsachen, stets Gerichte der Einzelstaaten, und nur das hbchste
Gericht, das Reichsgericht (in der Schweiz das Bundesgericht), ist ein Gericht des Reiches
(des Bundes) und aus der Souveränität dieses hervorgegangen 3. Daher hat in Deutschland
das Reich das Reichsgericht zu besetzen und führt das Reich die Aufsicht darüber; die Aus-
gaben desselben sind Reichsausgaben; dagegen haben die einzelnen Staaten alle anderen
Gerichte zu besetzen und ihre Kosten zu bestreiten. «
Diese Einrichtung ist in Deutschland geschichtlich hergebracht; schon als das fränkische Reich
zerfiel und landesherrliche Territorien entstanden, waren die Gerichte vomehmlich Landes-
gerichte; Reichsgericht dagegen war das Hofgericht, später das Kammergericht, dann das Reichs-
Uber die Geschichte der Gewerbegerichte vgl. die Darstellung von Stieda, Das Ge-
werbegericht (1890); über die französischen Prud'hommes vgl. Lyon Caecen et Renault,
Praiteé de droit commercial 1, nr. 529 ff.; über die Entwicklung in der Schweiz vgl. Köpke,
Über gewerbliche Schiedsgerichte (1893).
: Vgl. die Entscheidungen darüber in Warneyers Zusammenstellung 11 S. 319,
Seuffert, Zeitschr. für Zivilprozeß 40 S. 169, 42 S. 343; Kammergericht 24. 9. 1911, JW. 40
(959). Natürlich wird hier viel mit den Vorarbeiten gewirtschaftet.
: Bezüglich der Schweiz vgl. Beith, Der rechtliche Einfluß der Kantonc auf die Bundes-
gewalt (1902) S. 28; bezüglich der Vereinigten Staaten Lie Fur und Posener, Bundesstaat
S. 213 f.