Zivilprozeß= und Konkursrecht. 271
kammergericht und der Reichshofrat. Reichsgerichte waren auch noch einige andere Gerichte,
welche sich mit Recht oder Unrecht die Befugnis zuschrieben, Rechtssachen aus dem ganzen Reiche
an sich ziehen und entscheiden zu dürfen, vor allem das Hofgericht Rottweil 1.
Aber auch soweit die Gerichte aus der Souveränität der Bundesstaaten hervorgehen, also
ursprungshalber Einzelstaatengerichte sind, sind sie nach ihrer Funktion Gerichte des Reichs
und wirken gegenseitig als Gerichte desselben Staatswesens; ja nicht nur die Gerichte, sonderm
auch die gerichtlichen Organe, so z. B. die Gerichtsvollzieher und im Strafprozeß die in Ge-
richtssachen tätigen Polizeiorgane. Daher gilt der Grundsatz, daß jede Entscheidung eines solchen
Gerichts für ganz Deutschland gilt, daß sich ihre festsetzende Wirkung über ganz Deutschland
verbreitet, und daß ihre Zwangsgewalt das ganze Deutsche Reich umfaßt; weshalb auch ein
jeder von einem solchen Gerichte oder von einem entsprechenden Notar ausgehende vollstreck-
bare Titel in ganz Deutschland vollstreckkar, und weshalb ein jedes Gericht Deutschlands dem
anderen gegenüber hilfs= und unterstützungspflichtig ist.
3. Gerichtszwang.
§ 16. Die Gerichte haben Zwangsgewalt; diese zeigt sich:
1. als Zustellungsgewalt. Das Gericht und der gerichtliche Beamte (Gerichtsvollzieher,
Postbote) haben die Möglichkeit, zuzustellen, d. h. ein Schriftstück (eine beglaubigte Abschrift
des Originalschriftstückes): einer Partei oder einem Dritten mit der Wirkung, zukommen zu lassen,
daß bestimmte, im Prozeßgesetze vorgesehene Prozeßfolgen entstehen. Als Zustellung wirkt auch
a) die Niederlegung des Schriftstückes im Falle der Annahmeweigerung (§ 180),
b) die Ersatzzustellung, ohne daß das Schriftstück an den Adressaten gelangt.
Ersatzzustellung ist die Ubergabe an eine andere Person mit der Rechtswirkung,
als ob sie an den Adressaten gelangt wäre; so insbesondere die Ubergabe an einen erwachsenen
Hausgenossen, an einen Gewerbe= oder Bureaugehilfen, wenn die maßgebende Person nicht
in der Wohnung oder im Geschäftslokal anwesend ist?;
c) durch Zustellungsersatz, wenn statt der Zustellung ein Rechtsakt erfolgt, der
keine Zustellung ist, sie aber ersetzt, nämlich Anschlag oder Preßbekanntmachung, zu
welchen Mitteln man dann greift, wenn die maßgebende Person an unbekannten
Orten abwesend ist oder wenn ihr im Ausland nicht zugestellt werden kann. Die
Ersatzzustellung beruht auf der germanischen Idee der Einheit des Hauses, der Zu-
stellungsersatz auf der allgemeinen Idce der Gleichwerte .
2. Den Parteien gegenüber hat das Gericht regelmäßig keine weitere Zwangs-
gewalt. Erscheinen sie nicht, so treten zwar gewisse Rechtsfolgen ein, aber das Gericht bringt sie
nicht gewaltsam vor scine Schranken: es tut dies auch nicht einmal mittelbar dadurch, daß es
das Erscheinen durch Buße oder Haft erzwingt; solches war in früheren Entwicklungsformen
des Prozesses Brauch und Recht, heutzutage gilt es nicht mehr, wenigstens nicht in Vermögens-
prozessen: in Familienprozessen allerdings, nämlich in Eheprozessen, in Prozessen über Kind-
—
1 Vgl. meine Schrift: Das Verfahren des Hofgerichts Rottweil (1904). Es erlosch erst 1784.
:„ Wobei die Beglaubigung durch Gerichtsvollzicher bzw. Gerichtschreiber oder Anwalt ge-
schieht (§& 170, 196 B8PO.). Die Beglaubigung eines jeden ist genügend (R. 19. Juni 1900,
Entsch. 46, S. 399). Die Ansicht, daß in cinem Fall nur der eine, im anderen nur der andere gültig
beglaubigen könne, wäre ein unsäglicher Buchstabenkult. In gewissen Fällen wird eine Aus-
fertigung übergeben.
* Ladung ad domum habitacionis, si personaliter non invenietur, in den alten Statuten
von Como 210 (Mon. bist. patr. XVI p. 82), u. a. In Worms und Mainz unterschied man
Ladung von Mund zu Mund, und im Gegensatz dazu Ladung zu Haus und Hof.
Die Idee der Gleichwertigkeit eines Verfahrens mit der Zustellung zeigt sich darin, daß man
ein außerordentliches Mittel, der Person beizukommen, wählt, wo man sie nicht im ordentlichen
Wege fassen kann. Diese Idee findet sich bei den deutschen Femgerichten ebenso wie in der
gemeinrechtlichen Entwicklung seit den Clementinac und Bartolus. Die Femgerichte pflegten
die Klage in das Stadttor hineinzuwerfen und sich vom Tor einen Span abzuschneiden, oder die
Klage irgendwo festzunageln. Über die gemeinrechtliche Entwicklung vgl. Kohler und
Liesegang, Beiträge zur Geschichte des römischen Rechts II S. 140 f.