300 J. Kohler.
Richters an die Parteien, Beweise für die zugestandenen Tatsachen zu bringen, würde von
den Parteien mit der Bemerkung beantwortet, daß der Richter ja ebensogut Beweise für das
Gegenteil verlangen könnte, da kein genügender Grund vorliegt, eher die Tatsache A als
die Gegentatsache B anzunehmen. Nur in drei Fällen gibt es Ausnahmen: 1. wenn das Gegen-
teil der zugestandenen Tatsache notorisch ist; 2. wenn das Gegenteil sich aus den Vorgängen
des Prozesses, insbesondere den Zeugenaussagen, ergibt (wie in dem obigen Fall); 3. wenn
höhere Gründe dafür sprechen, daß der Richter eher für die Tatsache A als für die Gegen-
tatsache B Beweis fordert. Ein Hauptfall zu 3 ist der Fall des Ehe= und Familienprozesses,
wo es sich vielfach um Dinge des öffentlichen Interesses handelt, bei denen der Richtrer das
Nichtsein annehmen soll, solange er sich nicht durch besondere Gründe für das Sein eine
Überzeugung verschafft hat, wo also Sein und Nichtsein nicht gleichheitlich einander gegenüber-
stehen, sondern gerade das Sein der Tatsachen die öffentlichen Interessen am tiefsten berührt;
so z. B. wenn es sich um Tatsachen handelt, welche die Nichtigkeit oder Scheidung der Ehe zur
Folge haben. Man spricht hier vom Offizialprinzip; aber der Grund ist nicht der, daß eigentlich
ein anderes Prinzip gilt, sondern der, daß es sich hier um Tatsachen handelt, über welche eine
richterliche Uberzeugung speziell nach der positiven Seite hin erforderlich ist, 36617, 640 f., 670 8PO.
§& 38. Für die Beweismittel gelten andere Erwägungen: viele Beweismittel werden
sich dem Richter von selber aufdrängen: der Richter kann Augenscheine vornehmen, Sach-
verständige hören, den Parteien Eide auferlegen, ohne daß er dazu der Parteianträge bedarf;
insbesondere wird, was die Person der Sachverständigen betrifft, der Richter obne weiteres
wissen, an wen er sich zu wenden hat, und wenn nicht, so gibt es Leute genug, die ihm Auskunft
geben können (§ 144 Z PO.). Was aber Urkunden und Zeugen betrifft, so hat man vielfach
geglaubt, dem Richter eine größere Zurückhaltung auferlegen zu müssen; insbesondere hat man
den Richter dahin beschränkt, daß er nur diejenigen Zeugen benutzen dürfe, welche von den
Parteien vorgeschlagen worden sind. Dafür kann als Grund angeführt werden, daß seine
Kunde von dem einen oder anderen Zeugen eine zufällige sein kann 1, und daß auf solche Weise
die Richtertätigkeit zum Spiel des Zufalls würde. Indes ist dies nicht durchschlagend, denn
in vielen Fällen werden sich die Zeugen aus den von den Parteien erwähnten Umständen von
selber ergeben, und es kann jeweils dem vernünftigen Ermessen des Richters anheimgestellt
werden, zu prüfen, ob die vorgerufenen Zeugen ein richtiges Bild von der Sache geben werden
oder nicht. Während die deutsche ZPO. noch an dem älteren Standpunkt festgehalten hat,
daß der Richter in der Person der Zeugen an die Parteianträge gebunden ist, hat z. B. die
österreichische 8BPO. in dem berühmten §s 183 und die ungarische Z PO. in § 288 dem Richter
auch hier freie Hand gegeben. Bezüglich des Urkundenbeweises könnte gleichfalls dem Richter
eine größere Freiheit gestattet werden, da das Urkundenwesen vielfach offen zutage liegt und
der Richter ohne weiteres aus den Umständen entnehmen kann, wo sich die Urkunden befinden.
Auch hier geht die österreichische ZPO. 5 183 weiter als die unserige, und insbesondere ist es
dort dem Richter gestattet, Urkunden, die bei öffentlichen Behörden liegen, dann zu erheben,
wenn eine Partei sich darauf bezogen hat, während unsere Z3 PO. dies nur bezüglich der im
Besitz der Parteien befindlichen Urkunden bestimmt (5 142 ZPO.). Und noch weiter geht
die ungarische ZPO. § 326, wonach das Gericht die Vorlegung von Urkunden verlangen
kann, wenn auch nur aus den Ergebnissen das Beweisverfahren zu entnehmen ist, daß sich
die Urkunde im Besitz einer Partei befindet. Vgl. jetzt auch die Züricher Zivilprozeß O. vom
3. 4. 1913 5 166.
C. Ineinandergreifen der Kampfestätigkeit.
Anerkenntnis, Kongruenz, Versäumnis.
*# 3. Das Anerkenntnis der Klage von seiten des Beklagten erledigt die Frage über
den Klageanspruch oder das Feststellungsbegehren in der Art, daß der Richter vom Stand-
punkte des Anerkenntnisses zu urteilen hat. Doch gilt dies nur in Vermögens-, nicht in
Familienstreitsachen (§ 306 617, 640, 670), und es gilt auch in Vermögenssachen nur, sofern
der Richter nicht die Überzeugung gewinnt, daß das Anerkenntnis eine Unsittlichkeit oder
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1 In dieser Weise habe auch ich mich seinerzeit beholfen; Prozeß als Rechtsverhältnis, S. 29.