302 J. Kohler.
Eine besondere Entwicklung weist das sächsische Recht auf, wo der Beklagte im Fall des
Versäumnisses ohne weiteres verurteilt wurde, zunächst vorläufig, dann endgültig; eine Behand-
lung, die mit dem später zu kennzeichnenden deutschen Gedanken zusammenhängt, daß man.
den Beklagten verurteilt, falls er keinen Widerspruch entgegensetzt (S. 392) 1. Diese Behandlung
ist in das moderne Recht übergegangen, jedoch mit einer wesentlichen Anderung: der Beklagte
soll nicht ohne weiteres verurteilt werden, sondern nur die Klagtatsachen sollen als zugestanden
gelten. In den meisten Fällen wird diese Anderung wenig hervortreten und das Zugeständnis
der Tatsachen einfach zur Verurteilung führen; aber es ist immerhin möglich, daß das Gericht,
trotz Vorhandenseins der Tatsachen, den Klageanspruch nicht als begründet erachtet und daher
trotz Ausbleibens des Beklagten die Klage abweist, so z. B. wenn das zugestandene Rechts-
geschäft als unsittlich erscheint.
Diese letztere Behandlung entspricht der Gerechtigkeit viel mehr als das sächsische System.
Sie ermöglicht es dem Beklagten, auszubleiben, wenn er die Klage für frivol und schlecht be-
gründet erkennt, wodurch ihm Mühen und Kosten erspart werden: sie gibt dem Beklagten die
Zuversicht, daß er durch die Gerechtigkeit des Gerichts gedeckt ist 3.
Noch richtiger wäre es, wenn man zu dem System des Code de procéd. zurückkehren und
unter grundsätzlicher Anerkennung des Systems des Zugeständnisses dem Richter die Befugnis
gäbe, Nachweise zu begehren, wo er Bedenken findet.
Ubrigens beschränkt schon unsere ZPHO. die Wirkung des Ausbleibens auf diejenigen Tat-
sachen, welche dem Beklagten rechtzeitig durch Schriftsatz mitgeteilt wurden, so daß er nicht
über Gebühr überrascht werden kann. Dazu kommt noch folgendes: nur Tatsachen gelten als
zugestanden, nicht auch: 1. Schlußfolgerungen aus Tatsachen; nicht 2. die teils logischen, teils
juristischen Fragen des Kausalzusammenhanges.
Außerdem gilt auch hier die Ausnahme: die Folge der Tatsachenfeststellung tritt nicht
ein, wenn das Gegenteil der Behauptung notorisch ist.
Würde daher die Klage behaupten, der Beklagte habe den Kläger verzaubert und ihm dadurch
Schaden angerichtet, so dürfte kein Richter im Versäumnisverfahren den Beklagten verurteilen.
Ein wichtiges Problem des Versäumnisverfahrens ist folgendes: Soll das Versäumnis-
urteil ohne weiteres bestehen bleiben, auch dann, wenn etwa der Beklagte aus Versehen aus-
geblieben ist, oder gar auf Grund höherer Gewalt? Hier hat die Rechtsordnung verschiedene
Systeme beobachtet. Entweder wird das Versäumnisurteil nur als vorläufig erachtet, und das
endgültige Urteil tritt erst ein, nachdem das Erkenntnis ein oder mehrere Male wiederholt
worden ist. Dieses System hat sich im französischen Rechte entwickelt, indem erst das zweite,
dritte oder vierte Versäumnisurteil einen endgültigen Schluß herbeiführte. Oder das Ver-
säumungsurteil ist sofort endgültig; der Säumige kann aber Entschuldigungsgründe bringen,
auf Grund deren ihm Wiederherstellung (Restitutio in integrum) zugestanden werden
kann. Die österr. ZPO. hat wieder dem letzten System zugelenkt, & 146 f., weil man
annahm, daß das andere Verfahren leicht Anlaß für Verzögerung geben könne; die
ungarische ZPO. gibt bei Terminversäumnissen als Regel den Einspruch, in besonders
schweren Fällen aber nur die Wiedereinsetzung, § 460. Dies ist das richtige.
§s 41. Das Versäumnisverfahren hat man auch auf den Kläger übertragen, was aller-
dings weniger wichtig ist. Erscheint er nicht, so soll er als abgewiesen, die Klage als nicht
943); in Ivrea (ib. Ip. 1165 f.); das Verfahren mit primum und secundum decretum in
aMvenna 15. Jahrh. II 2 (Mon. istor. pert. alle prov. di Romagna p. 97) u. a. In Viterbo
(1251) III 92, 111 207 soll der Beklagte in Bann getan werden, wenn es sich um eine Eviktions-
haftung handelt, nicht wegen anderer Schuld. Vgl. auch Rascher, Kontumazialverfahren im
Schweizer Ziv.-P. S. 3 ., Lastig, S. 277.
1 Vgl. auch die Assises de la haute cour a. 61 und de la basse cour a. 130, wo das Nicht-
erscheinen den Verlust des Prozesses herbeiführt (auch Abrégé ib. 1I 5, 11); so auch Statuten von
Toulouse 1283 (B. de Rich. 1V p. 1045). Ebenso Vitry le français (1509) a. 8 und 9, ferner
Stadtrecht von Winterthur 1297: Ist och, das der, an dem man clagot, ze dem dritten male nut
fur gerichte kumet, so ime furgebotten wirt von dem vogte, swas denne der cleger offenot vor
gerihte, daz er im gelten sule, das mus er im geben, er sul ime es oder nut. Und wart das ge-
setzet, das man das gerihte nut versmache.
") Aus Kultur und Leben S. 193.