Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Dritter Band. (3)

Zivilprozeß- und Konkursrecht. 319 
des gesetzlichen Beweises herausgebildet, wo man zwar dem Richter die Entscheidung gab, aber 
in automatischer Weise, indem er nach bestimmten Regeln die Tatsache als bewiesen oder nicht- 
bewiesen annehmen mußte, ganz ebenso wie er sich früher der Gottheit fügte. So kam die so- 
genannte Beweisthcorie auf, namentlich der Satz, daß eine Tatsache durch zwei Zeugen be- 
wiesen werden müsse und nur durch zwei Zeugen zu beweisen sei, ganz ebenso wie früher der 
Beweis durch Parteien und mit zwei Eideshelfern zu liefern war. Dieser Satz wurde von den 
Zeiten des Brachylogus und Durantis an in der prozessualen Literatur unendlich 
oft behandelt. Und der Gedanke von der notwendigen Zweiheit der Zeugen reifte die seltsame 
Lehre vom halben Beweise, der semiplena probatio 2, als wie wenn eine Ulberzeugung 
geteilt werden könnte. Dies wurde dann von anderen in der geistlosesten Weise bis zu 
Viertelbeweisen und weiter durchgeführt, so daß die Tätigkeit des Richters zu einem arith- 
metischen Rechenexempel wurde. 
Das mußte mit der Reform des Prozesses im 19. Jahrhundert aufhören. Mehr und mehr 
kam der Gedanke, daß der Richter an den Ausfall gewisser Beweise gebunden sei, ab, seitdem 
die Zeugenaussagen mehr in die Tiefe gingen, die Zeugen weniger schablonenmäßige und mehr 
sachgemäße Aussagen zu geben hatten; man mußte erkennen, daß die Auffassung des Richters 
von wesentlicher Bedeutung sei, und daß die Art und Weise, wie die Zeugen sich äußerten, vieles 
der richterlichen Würdigung anheimgab, namentlich auch in der Richtung, ob die Tatsache den 
einen oder anderen Charakter, ob die bezeugten Worte das eine oder andere Verständnis hatten. 
Die Erinnerung an die alten Eideshelfer ging ganz verloren; die Zeugen gewannen ihre neu- 
zeitige Bedeutung, als Mittel, die richterliche Uberzeugung zu beeinflussen #. So erstand an 
Stelle des gesetzlichen das richterliche Beweisrecht, und die Entscheidung der Frage, ob etwas 
bewiesen ist oder nicht, war nun nicht mehr nach automatischen Rechtsnormen, sondern nach 
den natürlichen Gesetzen der Erfahrung zu geben. 
Die PO. geht, wie es sich im neuzeitigen Recht von selber versteht, von dem Prinzip der 
freien Beweiswürdigung des Richters aus; d. h. es ist lediglich seinem inneren Befinden anheim- 
gegeben, ob er von einer Tatsache sich überzeugt fühlt oder nicht (5 286 ZPO.). Diese Uüber- 
zeugung kann er sich ohne alles Weitere verschaffen: aus der bloßen Betrachtung der Sachlage, 
aus den Vorträgen der Parteien und aus dem Eindruck, den sie in ihm hervorrufen ". Ins- 
besondere steht ihm auch der Indizienbeweis, d. h. die Schlußfolgerung nach den Grundsätzen 
der Lebenserfahrung, in hohem Maße zu. Wird er sofort voll überzeugt, so bedarf es keiner Be- 
weiserhebung. Ist dies aber nicht der Fall, wird in ihm etwa nur eine Wahrscheinlichkeit, nicht 
eine volle Überzeugung wachgerufen, dann muß er sich in anderer Weise helfen. Wie unten 
(S. 326) darzulegen, kann er jeder der Parteien einen Eid auferlegen, sofern er annimmt, daß 
hierdurch die volle Überzeugung erregt wird. Er kann sich aber auch, wenn die Parteien Beweis- 
mittel bringen, dieser Beweismittel bedienen. 
Die Folge ist daher: die Erhebung der Beweise ist eine Rechtshandlung des Gerichts; 
sie geschieht nach Rechtsgrundsätzen, und sie hat Rechtsfolgen, insofern, als der Richter gehalten 
ist, die erhobenen Beweise in Betracht zu ziehen. Die Schlüsse aber, die der Richter aus den 
  
:1 Brachylogus IV 16; Durantisl part. 4, 5 11, Nr. 7 und II part. 2 de prob. § 3, 
Nr. 28. Im Wormser Recht Anfang des 14. Jahrh. wurden 3 ehrbare Zeugen verlangt, 
Kohler und Köhne, Wormser Recht S. 44. Sodann verlangte man gegen einen Inwohner das 
Zeugnis eines Inwohners; das Zeugnis von Frauen wurde nur ausnahmsweise zugelassen usw. 
Späteres bietet König, c. LXXX: von der zal der gezeugen. Damit war die Beweis- 
theorie nicht abgeschlossen; in gewissen Fällen verlangte man eine größere Anzahl von Zeugen, 
in vielen Fällen genügte nur der Urkundenbeweis, vgl. Como (1219) a. 221—229 (Mon. hist. 
patr. XVI p. 87); ein Gedanke, der in Frankreich seit der Ordonn. de Moulins v. 1566 eine große 
Bedeutung erlangt hat und heutzutage noch zu den Grundfesten des französischen Prozesses ge- 
hört (a. 1341 ff. Code civ.). ç 
: Durantis an der zweitzitierten Stelle: Sex genera semiplenae probationis, primum 
per unum testem. Heutzutage gilt die Beweistheorie noch in Schweden kraft Prozeßgesetz v. 1734. 
* Diese Umbildung läßt sich in Italien, Frankreich und Deutschland nachweisen; für Deutsch- 
land vgl. Kühtmann, Romanisierung des Zivilprozesses in Bremen S. 9 f., 71 f., über das 
Rottweiler Hofrecht vgl. Kohler, Verfahren des Hofgerichts Rottweil S. 65 f. 
4 Hierzegen spricht nicht RG. 11. 1. 1912 JW. 41 S. 356. Der Richter hat nur zu erklären, 
daß er die Überzeugung erworben habe; woraus, ist seine Sache.
	        
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