Zivilprozeß= und Konkursrecht. 321
beaugenscheinigende Gegenstand. Er kann die verschiedensten Beweisgründe bieten; vor
allem den Beweisgrund der eigenen sinnlichen Wahrnehmung des Richters, sofern das zu Be-
weisende im Augenscheinsgegenstand liegt; es handelt sich z. B. um die Probemäßigkeit der
Ware, und der Richter soll sich hiervon durch die Besichtigung der Ware und der Probe selber
überzeugen. Viele hatten nur diese Funktion des Augenscheins im Auge und wollten ihm darum
eine ganz besondere Stellung im Prozeßleben anweisen: das ist verkehrt: denn mitunter kann
aus dem Augenschein auch nur ein reines Indizium, und vielleicht ein solches sehr loser Act,
entnommen werden; wie sich das von selbst ergibt, wenn wir uns an den Augenschein im Straf-
prozeß erinnern, wo aus der Besichtigung der Ortlichkeit vielleicht nur ein Hinweis auf den Täter
hervorgeht, der erst durch andere Beweise zur Überführung werden kann. Ebenso kann im Zivil-
recht, wenn es sich z. B. um die Verwüstung eines Gartens handelt, durch den Augenschein
irgendeine Vermutung für die Täterschaft begründet werden, aber auch nur eine vielleicht recht
lose Vermutung.
Von besonderer Bedeutung ist der Augenschein im Industrierecht. Hier werden nicht
nur Sachen, sondern auch Methoden, Fabrikationsweisen in Augenschein genommen; darum
sprachen wir nicht von Augenscheinssachen, sondern von Augenscheinsgegenständen. Wesentlich
ist, daß dabei das Gewerbegeheimnis gewahrt werden muß; denn möglicherweise finden sich
in der zu besichtigenden Fabrik gewerbliche Geheimnisse, welche durch rücksichtslose prozessualische
Offenlegung aufhören würden, Geheimnisse zu sein, so daß der Berechtigte einen schweren
Verlust erlitte. Der Augenschein darf in solchem Falle nur mit denjenigen Vorsichtsmaßregeln
vorgenommen werden, welche eine Wahrung der Geschäftsgeheimnisse ermöglichen; hier muß
daher nötigenfalls von dem Grundsatz der Parteienöffentlichkeit abgegangen werden 2.
Die Zuverlässigkeit des Augenscheins hängt natürlich davon ab, daß der besichtigte Gegen-
stand wirklich der Gegenstand ist, für den er ausgegeben wird. Dies kommt in einer Be-
ziehung besonders in Betracht, nämlich was den Kauf nach Probe betrifft: hier ist es eine Lebens-
frage, daß der Augenschein mit der echten Probe vorgenommen wird; weshalb der Makler, der
ein solches Geschäft vermittelt, verpflichtet ist, die Probe aufzubewahren, um dadurch die Frage
der Echtheit außer Zweifel zu setzen (§ 96 HGB.).
Dem Augenschein verwandt ist die Urkundez; sie gibt dem Richter die Möglichkeit, das
Geschriebene in der Art zu verfolgen, als ob er die Tätigkeit des Schreibenden vor sich sähe:
eine vergangene Tätigkeit wird dadurch verewigt. Der Begriff der Urkunde ist daher im Prozeß
so weit als möglich zu fassen: es gehört dazu jede in irgendeiner Weise durch Schrift oder Symbol
festgelegte Geistesäußerung 3. Die Urkunde kann die verschiedensten Beweisgründe bieten,
insbesondere kann sie die Beweistatsache selbst enthalten; dann ist ihre Beweiskraft die größte;
so bei einem eigenhändigen Testament, bei einem schriftlich abgeschlossenen Vertrag. Möglicher-
weise enthält sie aber auch nur ein Geständnis, möglicherweise nur die Aussage über die Wahr-
nehmung eines Dritten, möglicherweise nur ein näheres oder femes Anzeichen oder Indiz.
Auch bei dem Urkundenbeweis spielt natürlich die Frage der Zuverlässigkeit eine große
Rolle; „zuverlässig" heißt hier „echt“: cs ist die Eigenschaft, daß die Urkunde von der Person her-
rührt, der sie zugeschrieben wird. In dieser Beziehung haben die sogenannten öffentlichen
Urkunden (aller Art), d. h. die von einer öffentlichen Behörde oder Urkundsperson innerhalb
ihres Kreises in der vorgeschriebenen Form ausgestellten Urkunden, einen großen Vorzug: sie
haben die Vermutung der Echtheit für sich, d. h. es wird nicht nur der Richter, wie selbstverständ-
lich, eine derartige, nur mit Schwierigkeit zu fälschende Urkunde im Zweifel für echt halten,
sondern er wird vom Gesetz noch besonders dazu ermächtigt; doch steht ihm die freie Befugnis
zu, im Zweifel von Amts wegen nachzuforschen (§ 437). Den gleichen Vorzug haben die Privat-
urkunden nicht; für den Beweis ihrer Echtheit kommt namentlich die Schriftwergleichung in
Betracht, beruhend auf der Erfahrung der Individualität der Handschrift (§ 440 f. ZPO.). Heut-
zutage hat man noch besondere Hilfsmittel, namentlich die vergrößernde Photographie, um
der Sache auf die Spur zu kommen.
1 Archiv f. Strafrecht 60 S. 212.
:* Prozeßrechtliche Forschungen S. 78f.
* Uber den Unterschied von Urkunde und Augenscheinsobjekt vgl. meine Abhandlung im Arch.
f. Strafrecht 60 S. 212. Der Unterschied tritt vielfach hervor, z. B. auch in 3 5680 3. 7 b ZPO.
Encyklovädie der Rechtswissenschaft. 7. der Neubearb. 2. Aufl. Band III. 21