Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Dritter Band. (3)

322 J. Kohler. 
Von besonderer Bedeutung ist die Urkunde, welche die Aussage eines Dritten über seine 
Wahrnehmung enthält; sie ist ein recht mittelbares Beweismittel: sie ist ein Beweismittel, das 
wiederum ein anderes Beweismittel, eine Zeugenaussage, enthält, welche ihrerseits nach ihrem 
Beweisgrund und ihrer Zuverlässigkeit zu prüfen ist. Darum hat dieses Beweismittel an sich 
nur eine sehr unsichere Bedeutung. Allein in einer Anwendung steigt es zu einem Beweismittel 
ersten Ranges empor, wenn es nämlich von einem öffentlichen Beamten oder einer öffentlichen 
Urkundsperson (Notar) über Wahrnehmungen, die sie gemacht, namentlich über Erklärungen, 
die sie gehört haben, errichtet wird. Denn hier wird die Urkunde, sowohl was die Gründlichkeit 
der Wahrnehmung als auch was die Zuverlässigkeit der Erklärung betrifft, durch die Stellung 
und Verantwortlichkeit der ausstellenden öffentlichen Person gedeckt. Diese Urkunden haben 
sich schon im römischen Recht als acta publica entwickelt; sie haben mit der Entwicklung des 
Notariats in Italien, bei welcher die Glossatoren eine große Rolle spielten 1, einen neuen Auf- 
schwung genommen. Heutzutage unterliegen sie natürlich auch der richterlichen Würdigung; 
die 3 PO. hat noch in einer etwas altertümlichen Weise die Ausdrucksformel gebraucht, sie 
lieferten vollen Beweis, es sei aber, abgesehen von wenigen Fällen, der Beweis der Unrichtig- 
keit vorbehalten (§ 415 f.)! 
Zeuge ist derjenige, der dem Gerichte im Prozeß über gemachte Wahrnehmungen 
Auskunft geben soll, über Wahrnehmungen sinnlicher oder auch außersinnlicher Art: ein 
Zeuge kann befragt werden, nicht etwa bloß über das, was er gesehen oder gehört hat, sondern 
auch über das, was er bei einer gewissen Gelegenheit gedacht, ob er etwas vorausgesehen, ob 
er etwas für möglich gehalten habe. 
Die Wahrnehmungen, auch die sinnlichen, sind niemals reine Sinnesfunktion: sie sind 
stets verbunden mit einer Verstandestätigkeit, da der Verstand die einzelnen sinnlichen Ein- 
drücke miteinander verbinden, zu einem Ganzen gestalten, ihre Beziehungen zueinander er- 
kennen und aus den äußeren Erscheinungen die inneren Faktoren herausholen muß, wenn über- 
haupt eine vernünftige Aussage herauskommen soll 2. So wird z. B. die Erklärung, ob etwas 
groß oder klein, ob viel oder wenig, immer nur unter Bezugnahme auf Vergleichungsmomente 
gegeben werden können; und darum wird auch z. B. der Physiker, Astronom, Mediziner eine 
ganz andere Aussage machen als der Laie, weil er die sinnlich wahrgenommenen Erscheinungen 
ganz anders zusammenzufassen und zu kennzeichnen vermag. 
Stets aber kann der Zeuge nur vernommen werden über Wahrnehmungen von Wirklich- 
keiten und die daran sich knüpfenden Verstandestätigkeiten, nicht aber über Möglichkeiten und 
Eventualitäten; er kann darüber befragt werden, was er bei einer Gelegenheit gedacht habe, 
nicht aber über das, was er gedacht hätte, wenn der und jener Umstand eingetreten wäre. Denn 
dies ist nicht ein wirklicher Vorgang, sondern nur eine Möglichkeit, welche zwar durch Schluß- 
folgerungen erhascht, nicht aber wahrgenommen werden kann; Schlußfolgerungen aber sind 
eine ganz andere Verstandestätigkeit als Wahrnehmungen: zu neuen Schlußfolgerungen ist der 
Zeuge nicht verpflichtet; er ist nur verpflichtet, solche Schlußfolgerungen anzugeben, die er 
bereits wirklich gemacht hat. 
Die Zeugenaussage bietet den Beweisgrund der Wahrehmung des Zeugen. Dieser 
Beweisgrund kann nach zwei Richtungen hin zu würdigen sein: einmal nach dem Gegenstand 
des vom Zeugen Beobachteten; danach bemißt sich die Beweiskraft vor allem: der Zeuge kann 
gerade die Beweistatsache wahrgenommen haben, möglicherweise aber auch nur ein Ge- 
ständnis, möglicherweise nur ein näheres oder ferneres Anzeichen (Indizium). Er kann aber 
weiter in Betracht kommen je nach seiner Intensität: die Wahrnehmung kann eine oberfläch- 
liche oder eine tiefe und scharfe sein; sie kann gemacht sein, während der Zeuge frisch und be- 
obachtungsfähig oder während er in seiner Wahrnehmungzkraft getrübt war: danach kann die 
Wahrnehmung des Zeugen eine richtige und unrichtige, eine klare und verschwommene sein. 
Alles dieses beeinflußt natürlich die Beweiskraft. 
Von anderer Bedeutung ist die Zuverlässigkeit der Zeugenaussage; Zuverlässigkeit insofern, 
als die Aussage die Wahrnehmung des Zeugen richtig und genau wiedergibt. Die Zuverlässig- 
Treffend Voltelini, Acta Tirolensia II, p. 20f. 
* Agl. den bedeutenden Aufsatz von Groß im Archiv f. Strafrecht 49, S. 184 f.
	        
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