348 J. Kohler.
Im übrigen ist die ganze Lehre von der subjektiven Beschränkung der Rechtskraft von
den germanischen Völkern nur mit einem gewissen Widerwillen angenommen worden, und
nach und nach regten sich Bestrebungen, die Wirkung der Urteile auszuweiten und ihnen einen
sozialen, allgemeingültigen Charakter zu verleihen. Davon wird später (S. 399) die Rede sein.
II. Reaktion des materiellen Rechts.
& 76. Die gerichtliche Entscheidung wirkt als Ausfluß öffentlicher Macht, sie überwindet
das Zivilrecht. Auch wenn sie unrichtig ist, bindet sie die Parteien; sie verändert daher in ent-
sprechender Weise das strittige Rechtsverhältnis. Das ist einer der ersten Grundsätze des
Prozeßrechts; frühere Rechte traten darum sehr streng gegen denjenigen auf, der sich der Ent-
scheidung nicht unterwerfen wollte (S. 307). Das Gecsagte gilt jedoch nur unter der Voraussetzung,
daß nicht bestimmte trübende Einflüsse so in den Prozeß eingewirkt haben, daß eine Auf-
rechterhaltung des Urteils unserem sittlichen Bewußtsein widerspräche. So sehr der Staat die
Festigkeit seiner Entscheidungen vertreten muß, so wenig darf er sich der sittlichen Kraft der
Wahrheit entziehen, wenn diese durch unreine Elemente in ciner Weise gebeugt wird, wie
es das Gewissen des Volkes unerträglich findet. In diesem Falle muß der Staat dem
durch das Urteil Betroffenen eine Gegenwirkung gewähren: das auf der sittlichen Grund-
lage des Staates aufgebaute Urteil gilt nur, soweit nicht höhere sittliche Anforderungen ent-
gegenstehen.
Fälle, wo hiernach eine Gegenwirkung geboten ist, sind zwei:
1. der Fall eines Verbrechens im Prozeß, welches zu einer Fälschung des Ergebnisses
führt: dies kann Urkundenfälschung, Verletzung der Eidespflicht (auch bloß fahrlässige) sein;
es kann Prävarikation des Anwalts sein, Rechtsbeugung des Richters, Bestechung und ähn-
liches 1.
Vorausgesetzt ist, daß diese Verbrechen in einer das Gewissen des Volkes rührenden Weise,
durch strafgerichtliches Urteil, festgesetzt sind; und nur, wenn das Strafverfahren aus prozessualen
Gründen, z. B. wegen Todes oder Flucht des Täters, ausgeschlossen ist, kann diese Konsta-
tierung entbehrt werden; sonst müßte der Staat ein Abwesenheitsverfahren einrichten, von
dem man Abstand genommen hat (88 580, 581).
2. Ein zweiter Fall liegt nicht schon dann vor, wenn irgendein neues Beweismittel
gefunden wird (was ja sehr unsicher und schwankend wäre) 2, sondern es muß eine neue Urkunde
aufgefunden werden: bei diesem Sachverhalt würde es das sittliche Bewußtsein schwer ver-
letzen, wenn der andere Teil sich auf sein formales Recht steifen wollte. Dem steht der Fall
gleich, daß die Streitsache sich als eine bereits urteilsmäßig entschiedene herausstellt: dies ist
kein Nichtigkeitsgrund, aber es kann Restitution verlangt werden, wenn es erst jetzt entdeckt
wird. Endlich kommt der Fall in Betracht, daß durch strafgerichtliches Wiederaufnahmeverfahren
ein strafrechtliches Urteil aufgehoben wird, welches tatsächlich dem zivilrechtlichen Urteil zu-
grunde liegt .
Die Gegenwirkung geschieht in diesen Fällen nicht durch die einfache Erklärung, sondem
ourch sogenannte Restitutionsklage, die innerhalb einer bestimmten Frist, nämlich innerhalb
eines Monats von dem Momente an, wo die maßgebenden Umstände bekannt wurden, zu
erheben ist; jedenfalls aber innerhalb fünf Jahren seit der Rechtskraft des Urteils. Die Klage
Dieser Grund der Restitutionsklage ergibt sich von selbst. Manche Rechte nahmen sogar
an, daß ein auf falsche Zeugenaussage gebautes Urteil nichtig sei: non valeat ipso jure: so Statuta
Ferrariac 1534 up. 163. Vgl. auch § 6 badische 3 PO.: „Jede richterliche Verfügung oder Ent-
scheidung ist nichtig und zu allen Zeiten, ohne Rücksicht auf irgend eine Verjährung als nichtig
anzufechten, wenn sie durch Zwang oder Machtgebote höherer Gewalt ihre Entstehung erhalten
hat.“ Natürlich wäre in derartig politisch rauhen Zeiten überhaupt fraglich, ob ein solches Urteil
noch ein gerichtliches Urteil wäre.
* Wenn man im Strapprozeß zugunsten der Verurteilten weitergeht, so sprechen dafür be-
sondere Gründe.
* Wie, wenn jemand wegen Patentverletzung verurteilt ist und das Patent nachträglich als
nichtig erklärt wird? Das Nichtigkeitsurteil ist eine neue Urkunde im Sinn des & 580 Z. 7 3PO.
Handb. des Patentrechts S. 871. Völlig verkehrt RG. 4. März 1901 Bd. 48 S. 384.