Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Dritter Band. (3)

Zivilprozeß- und Konkursrecht. 365 
Im übrigen kennt das moderne Recht vollkommene und unvollkommene Rechtsmittel. 
Entweder kann das zweite Gericht die Sache nach allen Seiten hin einer neuen Prüfung unter- 
ziehen, oder es ist nur befugt, Prozeß und Entscheidung nach gewisser Richtung hin auf Fehler 
zu prüfen. Letzteres ist eine gewisse Unnatur, die sich aber begreifen läßt, weil sonst die Ober- 
gerichte ihrer Aufgabe nicht gerecht werden könnten. Die Entscheidungen der Obergerichte 
sollen nicht nur für den gegenwärtigen Prozeß wirken, sondern auch für das Rechtsleben über- 
haupt; sie sollen eine gewisse Einheit in der Rechtsprechung herbeiführen und den Stand der 
Gerichtsjurisprudenz heben. Das wäre aber nicht möglich, wenn ein oberstes Gericht mit einem 
so umfassenden Gebiet wie das Reichsgericht die untergerichtlichen Entscheidungen nach allen 
Seiten hin nachzuprüfen hätte. Es wäre nicht nur eine unerträgliche Arbeitslast, es wäre zu 
gleicher Zeit eine außerordentliche Zersplitterung der Tätigkeit, bei welcher der andere Zweck, 
nämlich Einheit und wissenschaftliche Tiefe der Entscheidungen, verloren ginge. 
Daher hat man zwischen Berufung und Revision unterschieden, welch letztere man früher 
auch als Nichtigkeitsbeschwerde, Kassation usw. zu charakterisieren suchte. Dabei ist das Beispiel 
Frankreichs nicht ohne Einfluß gewesen. In Frankreich hat der Kassationshof aus der Reminiszenz 
der Parlamente her eine besondere Stellung gewonnen. Schon die Parlamente waren mehr 
als Gerichte; sie waren ein Mittelding zwischen Richter und Gesetzgeber, und ihre Bedeutung 
war insbesondere auch die Aufsicht über die Rechtsprechung und die Wahrung einer richtigen 
Handhabung der Gesetze. Dies ist auf den Kassationshof übergegangen: er ist eigentlich kein 
Gericht; er ist ein Wächter des Gesetzes und hat, wo immer er eine Gesetzwidrigkeit findet, diese 
zu rügen und das Urteil zu vernichten. Hier hört das Urteil nicht auf kraft auflösender Be- 
dingung, sondern es hört auf, weil eine höhere Staatsbehörde ihm seine Kraft nimmt. Daher 
hat z. B. der Kassationshof stets zu vermichten, wenn er eine Rechtsverletzung findet, auch wenn 
die Entscheidung völlig richtig wäre; dem Kassationshof ist es nicht um die Entscheidung des 
einzelnen Falles, sondern um die Aufrechterhaltung der richtigen Rechtsgrundsätze zu tun. 
Immerhin aber hat dieses Beispiel nachgewirkt und uns darin bestärkt, Rechtsmittel zu schaffen, 
bei denen nur ein Irrtum in den Rechtssätzen, nicht ein Frrtum in der tatsächlichen Beurteilung 
in Betracht kommt. Ein Irrtum in der tatsächlichen Beurteilung kann allerdings mittelbar 
einen Irrtum über einen Rechtssatz in sich fassen, dann nämlich, wenn die tatsächliche Beurteilung 
durch falsche Rechtssätze beeinflußt worden ist. Wenn z. B. das Gericht eine Tatsache nicht 
angenommen hat, weil es dem Zeugen nicht glaubte, so ist dies eine tatsächliche Beurteilung, 
denn bezüglich der Beweiskraft eines Zeugen gilt nichts weiter als die (tatsächliche) richterliche 
Überzeugung. Wenn dagegen das Gericht eine Tatsache deswegen nicht angenommen hat, 
weil sie nur ein Zeuge aussagte und der Richter geglaubt hat, daß kraft des Prozeß- 
rechts eine Tatsache nur durch zwei Zeugen bestätigt werden könne, dann liegt ein Rechts- 
irrtum vor, als ob es keine freie Beweisprüfung gebe, und die Verwerfung der Tatsache, die 
der Zeuge aussagt, ist von falscher rechtlicher Auffassung geleitet. In solchem Falle ist es aber 
die zugrunde liegende falsche Rechtsauffassung, welche die Revision ermöglicht; denn eine 
falsche Rechtsauffassung ermöglicht die Revision, auch wenn sie nur mittelbar gewirkt hat, 
§561 ZPO. 
Eine mechanische Beschränkung der Rechtsmittel auf eine bestimmte Beschwerungssumme 
hatte das gemeine Recht entwickelt. Wir haben sie nicht für die Berufung (außer bei Gewerbe- 
gerichten, wo sie 100 Mark, und bei Kaufmannzsgerichten, wo sie 300 Mark beträgt:) dagegen 
haben wir eine Revisionssumme, die früher 1500 Mark betrug, jetzt auf 4000 Mark erhöht worden 
ist. Doch gibt es auch hiervon einige Ausnahmen (§§ 546, 547 ZPO.). Bei der Beschwerde 
ist in einem besonderen Falle eine Beschwerdesumme von 50 Mark bestimmt (8568 3 PO.). Da- 
gegen besteht der vielverbreitete Grundsatz einer vom Verlierenden zu zahlenden Unterliegungs- 
summe (Sukkumbenzgeld) nicht. 
Ein Rechtsmittel kann einlegen, wer möglicherweise beschwert ist, nicht also der, dessen 
Anträge vollständig obgesiegt haben, auch dann nicht, wenn er etwa das Rechtsmittel zur Er- 
höhung des Klagebegehrens benutzen wollte 1. Ob allerdings das Urteil das Klagebegehren 
  
: So richtig das RG. in vielen Entscheidungen (z. B. Bd. 45 S. 321). Das Gegenteil würde 
das Rechtsmittel in die Unnatur verkehren und zu einer Nachholungsinstanz machen. Eine Ausnahme 
gilt in Ehe-(und Familienanfechtungssstreitigkeiten; hier kann man ein Nechtemittel einlegen,
	        
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