Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Dritter Band. (3)

394 J. Kohler. 
IV. Urkundenprozeß. 
8 112. Der vollstreckbaren Urkunde wie dem Mahnverfahren verwandt, wenn auch von 
beiden konstruktiv verschieden, ist der Urkundenprozeß. Er hat sich aus dem Verfahren mit voll- 
streckbarer Urkunde entwickelt, und zwar durch Entwicklung des mandatum sine clausula. An 
Stelle der Vollstreckbarkeit der Urkunde trat schon im italienischen Rechte, und entsprechend 
auch im deutschen Kammergerichtsprozeß das Verfahren, daß auf Grund der Urkunde zuerst 
ein Zahlungsgebot des Gerichts erging. Damit war man bereits von der Vollstreckungs- 
natur abgekommen: die Vollstreckung sollte nicht aus dem in der Urkunde enthaltenen Vertrag, 
sondern aus dem Zahlungsgebot, dem mandatum erfolgen. War man einmal so weit, so führte 
ein weiterer Schritt zu folgender Umgestaltung: der Beklagte konnte dem Mandat trotz seiner 
Unbedingtheit immer noch entgegentreten; hatte man doch auch schon früher gegen vollstreckbare 
Urkunden gewisse Einwände gestattet, welche die Vollstreckung hemmten 1. Jetzt gab man dem 
Ganzen die Gestalt, daß schon im Mandat eine Frist gesetzt wurde, in der der Beklagte erscheinen 
und entweder die Erfüllung des Mandats nachweisen oder jene Einwendungen bringen sollte. 
Hiermit war der Weg zu einer Verhandlung in der Sache angebahnt, und das Mandat 
war nichts anderes mehr als eine Klage, allerdings mit der überschießenden Wirkung, wie im 
bedingten Mandatsprozeß, daß der Beklagte im Falle des Nichterscheinens ohne weiteres 
sachfällig wurde. Im Termin aber sollte der Beklagte nur bestimmte Einwendungen bringen 
dürfen; welche — darüber hat man viel geschwankt. Die frühere Entwicklung bezeichnete 
gewisse Arten von Einreden; später führte das praktische Bedürfnis dahin: Einreden aller Art 
sollten zulässig sein, sofern sie nur schleunig bewiesen werden könnten, während alle nicht schleunig 
beweisbaren späterem Verfahren vorbehalten wurden. So gestattete sich der Urkundenprozeß. 
Er ist auch in die ZPO. übernommen worden, obgleich wir das BVerfahren mit vollstreckbarer 
Urkunde haben; aber aus einem besonderen Grund. Jenes Verfahren läßt sich rationell 
nur bei öffentlichen Urkunden durchführen; Privaturkunden widerstrebt es2. Wie nun 
schon im gemeinen Prozeß die Ubertragung des mandatum sine clausula auf Privat- 
urkunden hauptsächlich dazu beigetragen hat, der Sache diese Wendung zu geben — denn bei 
der Privaturkunde ist es höchst bedenklich, ohne weiteres eine Vollstreckung zuzulassen —, so 
ist die Privaturkunde der Hauptkreis dessen, was man im neuerlichen Recht Urkundenprozeß 
neunt; und die verbreitetste Art ist der Wechselprozeß, welcher im allgemeinen den Regeln des 
Urkundenprozesses folgt, mit einigen der Beschleunigung dienenden Besonderheiten. Den 
Urkundenprozeß gestattet man für Anspruch auf eine bestimmte Summe Geld oder vertretbare 
Sachen?; man verlangt aber, daß der Anspruch völlig mit Urkunden dargetan werden 
kann, welche Urkunden übrigens auch Urkunden mit bloß mittelbaren Beweisgründen sein 
können 4. 
Im übrigen muß der Kläger in der Klage erklären, daß er den Urkundenprozeß wolle; 
dann wird der Beklagte nur mit solchen Einwendungen gehört, welche er durch Urkunden 
oder durch Eideszuschiebung beweist, und der Kläger kann nur mit solchen Tatsachen erwidern. 
Daraufhin ergeht ein Vorbehaltsurteil; im Nachverfahren, zu dem der eine Teil den anderen 
laden darf, kann alles nachgebracht werden, was im bisherigen Verfahren ausgeschlossen war. 
Der Weg des Verfahrens besteht also in der Teilung des Prozesses in zwei Verfahrens- 
weisen, in deren Mitte das Vorbehaltungsurteil steht; auf diese Weise hat man den Gedanken 
1 Gesammelte Beiträge S. 500. Manchmal hatte der Kläger seine Forderung zu beschwören, 
so in Valenciennes (ebenda S. 461). Auch Albericus de Rosato, Tract. de stat. 
u. 152, bestätigt, daß der Schuldner nach dem Rechte vom Montpellier, gegenüber einer 
Urkunde mit dem sigillum parvum regis Franciae, drei Einreden hatte, die exceptio rei judicatse, 
pacti de non petendo, solutionis. 
„ Man müßte denn zu dem ingeniösen Mittel des spanischen Prozesses greifen: hier kann bei 
der Privaturkunde der Kläger den Beklagten zur Anerkennung der Echtheit der Urkunde laden; 
erscheint er nicht, dann wird die Privaturkunde wie eine öffentliche Urkunde vollstreckbar; val. 
Prozeßrechtliche Forschungen S. 128. 
* Auch für Ansprüche auf Duldung der Zwangsvollstreckung, RG. 50 S. 52. 
* Vgl. Oberst. LG. München 22. 3. 1887 Seuffert 42 nr. 336.
	        
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