Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Dritter Band. (3)

Erstes Kapitel. Einleitung. 
8 1. Begriff der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Die hierher gehörigen Angelegenheiten 
im allgemeinen. 1. Die freiwillige Gerichtsbarkeit ist gleich der streitigen behördliche, vor- 
wiegend gerichtliche Tätigkeit, welche Privatrechtsverhältnisse, die Rechtbeziehun- 
gen der einzelnen als solcher, zum Gegenstand hat und im Interesse Privater geübt 
wird; das erste Merkmal scheidet beide von der Verwaltung ,f auch der Justizverwaltung, 
welche die Verhältnisse des öffentlichen Rechts, der Gesamtheit und der einzelnen als ihrer 
Glieder, betrifft, das zweite von der Strafgerichtsbarkeit, die, auch soweit sie den 
Schutz verletzter oder bedrohter privater Rechtsgüter bezweckt, im öffentlichen Interesse der ge- 
samten Rechtsordnung geübt wird. Von der streitigen unterscheidet sich die freiwillige 
Gerichtsbarkeit praktisch durch die Verschiedenheit des behördlichen (gericht- 
lichen) Verfahrens. Sachen der streitigen Gerichtsbarkeit (in der Rechtssprache der 
Reichsgesetze: „bürgerliche Rechtsstreitigkeiten“) sind diejenigen, welche in den Formen des 
Zivilprozesses zu erledigen sind; dagegen ist die den Zwecken der Privatrechtsordnung dienende 
behördliche Tätigkeit, die sich nicht in diesen Formen vollzieht, im Sinne des geltenden Rechts 
Angelegenheit der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Gemeinhin wird gelehrt, daß die freiwillige 
Gerichtsbarkeit auch durch ein begriffliches, der Verschiedenheit des Zwecks entnommenes Merk- 
mal von der streitigen geschieden werde: die streitige Gerichtsbarkeit diene der Bewährung und 
Aufrechterhaltung bestehender Privatrechte, die freiwillige beziele dagegen die Gestaltung (Be- 
gründung, Anderung, Aufhebung) der Privatrechtsverhältnisse; bei jener sei das subjektive 
Privatrecht Voraussetzung, bei dieser Ergebnis der behördlichen Tätigkeit (so schon Oesterley, 
Versuche aus dem Gebiete der sogenannten freiwilligen Gerichtsbarkeit, 1830 S. 43, und ihm 
folgend die überwiegende Mehrzahl der Neueren, vor allem auch Wach, Handbuch des Zivil- 
prozeßrechts S. 47—53). Daran ist so viel richtig, daß die bezeichnete Unterscheidung einerseits 
einer rechtsbewährenden (deklarativen), anderseits einer rechtsgestaltenden (konstitutiven) Wirkung 
der behördlichen Tätigkeit auf privatrechtlichem Gebict der durch das geltende Recht begründeten 
Abgrenzung zwischen streitiger und freiwilliger Gerichtsbarkeit, wie auch die Denkschrift zum 
Entwurf eines Reichsgesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FG.) 
bestätigt, im allgemeinen zugrunde liegt, und daß, soweit das Gesetz keine Bestimmung ge- 
troffen hat, Angelegenheiten, bei welchen die gerichtliche Tätigkeit rechtsbewährend wirkt, der 
streitigen, solche, bei denen sie rechtsgestaltend wirkt, der freiwilligen Gerichtsbarkeit zuzuweisen 
sind. Allein, das geltende Recht hat jene Unterscheidung bei Abgrenzung der streitigen und der 
freiwilligen Gerichtsbarkeit nicht allenthalben festgehalten; es hat Sachen, bei denen die gericht- 
liche Tätigkeit als eine rechtsgestaltende erscheint (so die Aufnahme von Vergleichen im amts- 
gerichtlichen Sühneverfahren oder während eines schwebenden Rechtsstreits, das Entmündigungs- 
verfahren, das in der ZPO. geregelte Aufgebotsverfahren u. a. m.) aus Zweckmäßigkeitsgründen 
dem Gebiet des Zivilprozesses, und es hat streitige Privatrechtsverhältnisse (z. B. gewisse Streitig- 
keiten unter Ehegatten), gerade um sie den Formen des Zivilprozesses zu entziehen, dem Gebiete 
der freiwilligen Gerichtsbarkeit zugewiesen. Diese durch das positive Recht begründete Zuweisung 
ist aber, soweit sic erfolgt ist, allein masigebend; es bleibt darum für eine sich mit ihr nicht deckende, 
praktisch bedeutungslose begriffliche Scheidung beider Arten der Gerichtsbarkeit kein Raum. 
Dieselbe Erwägung spricht auch gegen die vereinzelt in anderer Richtung versuchte materielle 
Abgrenzung der freiwilligen von der streitigen Gerichtsbarkeit, insbesondere gegen die Ausstellung, 
jene solle der Rechtsverletzung vorbeugen, diese dieselbe beseitigen (v. Mohl, Polizeiwissen- 
schaft, III, S. 12 ff.), oder diese solle Privatrechte schützen, jene dieselben zur Verhütung von 
Verdunkelung und Anfechtung klarstellen (so Weißler S. 3 ff.).
	        
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