56 Otto v. Gierke.
Viertes Kapitel.
Die Kapitalgenossenschaft.
Erster Titel: Die Aktiengesellschaft.
#§s 44. Begriff, Geschichte und Wesen.
1. Begriff. Die As. ist ein auf ein in „Aktien“ zerlegtes Grundkapital gebauter
Verein, dessen sämtliche Mitglieder (Aktionäre) mit Einlagen beteiligt sind, ohne für die Vereins-
verbindlichkeiten persönlich zu haften (§ 178). „Aktien“ aber sind feste, wertpapiermäßig ver-
briefte, zugleich die Mitgliedschaft im Verein gewährende Kapitalanteile.
2. Geschichte. Die Entstehung der A. läßt sich nicht, wie vielfach versucht ist, an
die römischen societates publicanorum anknüpfen. Vielmehr ist die AG. aus der kapitalistischen
Umbildung der germanischen Vermögensgenossenschaft heworgegangen. Vorstufen der
As. sind die auf vererbliche und veräußerliche Anteile an einem Sondewermögen gebauten
genossenschaftlichen Verbände, wie sie sich auf den verschiedensten Rechtsgebieten entwickelten.
So teilweise die von der alten Markgemeinde abgespalteten Agrargenossenschaften (insbesondere
Alpengenossenschaften, Walderbschaften und Rechtsamegemeinden); so frühzeitig Mühlen-
genossenschaften (in Köln im 12. Jahrh.); so einzelne Ganerbschaften; so seit der Spaltung von
Arbeit und Bergwerksanteil die Gewerkschaften des Bergrechts; so die Reederei des Seerechts.
Hier überall begegnet die Verknüpfung einer genossenschaftlichen Organisation mit einem in
Anteile zerlegten Gemeinschaftsvermögen, wenn auch meist der genossenschaftliche Verband
entweder eine weiterreichende Bedeutung behielt oder aber der körperschaftlichen Vollendung
entbehrte.
Die Vermögensgenossenschaft nahm die wesentlichen Merkmale der Aktiengesell-
schaft an, sobald das zugrunde liegende Sondewermögen als Geldkapital bewertet und der
Anteil daran als Kapitalanteil konstruiert wurde. Dies geschah am frühesten bei den italienischen
Staatsgläubigewereinen (insbesondere der banca di S. Giorgio in Genua seit 1407), deren durch
Einlagen aufgebrachtes und durch Darlehen an den Staat nutzbar gemachtes Grundkapital
(mons, maona) in veräußerliche und vererbliche Anteile (loca, luoghi) zerlegt wurde, die zugleich
Anspruch auf Gewinnanteil und auf Beteiligung an der körperschaftlichen Verwaltung gaben.
Unabhängig hiervon nahmen die großen Handelskompagnien, die seit Ende des 16. Jahrhunderts
als privilegierte Korporationen für den überseeischen Handel geschaffen wurden, unter dem
Einfluß des Vorbildes der Reederei eine aktiengesellschaftliche Verfassung an (niederländisch-
ostindische 1602, englisch-ostindische, 1599 in Form der Gilde gegründet, 1613, französische Com-
pagnie des Indes orientales 1628, brandenburgisch-amerikanische 1688 usw.). Hier kamen auch
(zuerst in den Niederlanden) die Namen „Aktie“ für die Kapitalanteile und „Aktionist“ oder
„Aktionär“ für die Mitglieder auf.
Die ungeheueren Erfolge dieser Gesellschaften führten zur Ausbreitung der neuen
Form, alsbald aber auch zu deren Mißbrauch (Aktienschwindel und Zusammenbruch in Frank-
reich infolge der staatlich geleiteten Gründungen von Law seit 1719, in England infolge der
„Seifenblasen“-Gründungen von 1711—1720) und folgeweise zur Reaktion. Erst seit der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgte ein neuer Aufschwung, der seitdem, obschon immer wieder
durch Katastrophen unterbrochen, im ganzen angedauert hat. Stets allgemeiner angewandt
und reicher ausgestaltet, wurde die AG. vermöge ihrer Fähigkeit, das Kapital zusammenzuballen,
zu verselbständigen und zu befruchten, ein Haupthebel des wirtschaftlichen Fortschritts. Im
Verkehrs-, Bank= und Versicherungswesen, mehr und mehr aber auch in der Industrie und im
Handel erhob sie sich zur Trägerin der wichtigsten Unternmehmungen. Doch traten auch die Mängel
und Gefahren des reinen Kapitalvereins immer wieder zutage: die Verführung zur Unsolidität
durch die Begrenzung des Risikos; das Ubergewicht des Gewinnzweckes; die lose Struktur des
Vereinskörpers, vermöge deren das Vereinsleben leicht zum Schein wird; die schwindelhaften
Formen der Gründung und die Schwierigkeiten gehöriger Kontrolle der Verwaltung; die statt
der erhofften Befruchtung oft eintretende Aufsaugung des kleinen Kapitals; die Erhebung des