Grundzüge des Handelsrechts. 57
unpersönlichen Kapitals zum Herrn des Unternehmens und die Steigerung der Übermacht
des Kapitals im gesamten Wirtschaftsleben.
Die Gesetzgebung beschäftigte sich lange nicht oder nur repressiv mit der AG., da
ursprünglich das Recht jeder einzelnen AG. auf einem als lex specialis aufgefaßten Privileg
(Oktroi) beruhte. Zuerst der Code de commerce stellte allgemeine Normen für die als „Société
anonyme“ bezeichnete AG. auf, hielt aber an dem Erfordernis der Staatsgenehmigung zu
ihrer Entstehung und an einer starken Staatsaussicht fest. Diesem Vorbilde folgten andere Gesetz-
bücher und Spezialgesetze. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde in den meisten
Staaten die Gründung von ##. freigegeben und nur an Normativbestimmungen gebunden.
Die gemachten Erfahrungen führten dann vielfach zur Verschärfung der Normativbestimmungen.
In Deutschland wurde das Aktienrecht zuerst in den preuß. G. v. 3. Nov. 1838 (für
Eisenbahngesellschaften) und 9. Nov. 1843, dann im österr. Vereinsgesetz v. 26. Nov. 1852 geregelt.
Das HG. schuf ein einheitliches Aktienrecht. Doch gestattete es, während es grundsätzlich an
Staatsgenehmigung und Staatsaufsicht festhielt, dem Landesgesetz die Freigabe der AG., wovon
einzelne Staaten (die Hansestädte, Oldenburg, Baden, Württemberg, 1868 auch Sachsen) Ge-
brauch machten. Auch unterwarf es seinen Vorschriften nur die auf den Betricb von Handels-
geschäften gerichteten AG.; die anderen AG. wurden teils durch besondere Landesgesetze (Preuß.
v. 15. Febr. 1864, Braunschw. 1867, Sachsen 1868, Bayern 1869) geregelt, teils durch Landes-
gesetz (Hamb. EG. §24, Oldenb. Art. 20, Meckl. § 3) dem Handelsrecht unterworfen. In beiden
Punkten brachte die Novelle vom 11. Juni 1870 durchgreifende Anderungen, indem sie allgemein
die Staatsgenehmigung strich und jede AG. zum Kaufmann stempelte. Eine gründliche Reform
durch Verschärfung der Normativbestimmungen, Regelung der Verantwortlichkeit von Gründem
und Organen, Kräftigung der genossenschaftlichen Seite, Schaffung von Minderheitsrechten usw.
vollzog das die Form der Novelle beibehaltende RG. v. 18. Juli 1884. Das neue HG#B. hat
nur einzelne sachliche Anderungen getroffen, durchweg aber eine gereinigte Fassung hergestellt.
3. Wesen. Uber die rechtliche Natur der AG. ist unendlich viel gestritten worden. Man
erklärte sie bald für eine Sozietät (Sintenis, Treitschke, Thö!l), bald für eine Kor-
poration HGermann, Renaud, Fick), bald für ein Zwischengebilde, wobei man dann
wieder bald eine Gesellschaft mit bloß formeller Persönlichkeit annahm (Jolly, Primker,
Dernburg), bald in die juristische Person eine Gesellschaft hineinbaute Ladenburg,
Gerbeyn), bald zur deutschrechtlichen Genossenschaft grif (Beseler, Bluntschli).
Oder man ging vom Vermögen aus und konstruierte die AG. bald als sachenrechtliche Gesell-
schaft Marbach), bald als Zweckvermögen (Demelius, Bekker), bald als personifi-
zierten Fonds oder Stiftung (Kuntze, Witte). Ja, es wurde die Ansicht laut, die AG.
sei ein juristisches Monstrum, das jeder Konstruktion spotte (Brackenhöft). In Wahrheit
ist die AG. eine Körperschaft, aber eine besonders geartete Körperschaft, deren eigentümliche
Merkmale einerseits in ihrer stark ausgeprägten genossenschaftlichen Struktur, anderseits in
ihrem kapitalistischen Bau wurzeln. Als Genossenschaft verknüpft sie verfassungsmäßig den
Einheitsbereich einer juristischen Person und Sonderbereiche der einzelnen Glieder zu einem
Gemeinschaftsbereich. Als Kapitalgenossenschaft hat sie ihr unentbehrliches Substrat in einem
verselbständigten, seinem Nennwerte nach durch einen festen Geldbetrag ausgedrückten und
in Anteile zerlegten Vermögen, das den genossenschaftlichen Organismus trägt und bestimmt.
Um dieser Eigentümlichkeiten willen ist die AG. durch umfassende handelsrechtliche Sonder-
vorschriften geregelt. Gleichwohl fällt sie unter den Gattungsbegriff der privatrechtlichen Körper-
schaften und ist daher im Sinne des geltenden Rechts ein subsidiär den Vorschriften des bürger-
lichen Rechts unterworfener rechtsfähiger Verein (BGB. F 22).
Literatur: Geschichtliches b. Fick, Z. f. HKR. VII ff.; Gierke, Genoss. I 990 ff.;
Goldschmidt, U. I1 290 ff.; Lehmann, Geschichtliche enzoichteng des Aktienrechts
bis zum Code de comm., 1895; Goose dbenchnn Z. f. HR. L. 383 ff.: V. Ring, Asiatische
Handelskompagnien Friedrichs d. Gr. , 1890.
Sintenis, De sccietate questuaria, quae dicitur GA., 1837. M. Pöhls, Das Recht
der 2G. 1842. T 'h öl & 44 ff. Marbach, Ein Wort über den Rechtscharakter der Aktien-
vereine, 1844. Treitschke, Z. f. D. R. V 324 ff. Jolly, ebenda XI 317 ff. Reyscher,
ebenda XIII 382 ff. Ladenburg, Arch. f. H. u. W. 7 227 ff., Busch' Arch. VI 206 ff.
Hermann, Der Rechtscharakter der Aktienvereine, 1858. Bekker, Z. f. HR. IV 655 ff.