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Zu ihren Begriffsmerkmalen gehört es also, daß sie im Gegensatz zu den
Kapitalvereinen ein grundsätzlich offener Verein ist und notwendig und ausschließlich auf
einen wirtschaftlichen Zweck gerichtet sein muß. Dieser Zweck aber muß in der wirt-
schaftlichen Förderung der Mitglieder mittels eines gemeinschaftlichen Ge-
schäftsbetriebes (nicht z. B. bloß durch Vermittlertätigkeit oder Auskunfterteilung)
bestehen. Die e. G. ist ein wirtschaftlicher Gegenseitigkeitsverein, dessen Lebensaufgabe sich
in einem nach innen gerichteten Geschäftsverkehr konzentriert. Das Gesetz führt als „namentlich"
hierher gehörig verschiedene Arten von Genossenschaften auf: „Kredit= und Vorschußvereine“,
also Vereine, die auf Grund des vergemeinschafteten Mitgliederkredits die Kreditbedürsnisse
der einzelnen Mitglieder durch Kreditgeschäfte mit ihnen befriedigen; „Konsumvereine“, die den
gewöhnlichen Lebens= oder Wirtschaftsbedürfnissen der Mitglieder durch Anschaffung im großen
und Ablaß im kleinen dienen; gewerbliche oder landwirtschaftliche „Rohstoffvereine“ für ge-
meinschaftliche Materialbeschaffung, Werkgenossenschaften für Beschaffung und gemeinschaft-
liche Benutzung von Betriebsgegenständen (Maschinen, Anlagen usw.) und „Absatzgenossen-
schaften oder Magazinvereine“ für gemeinschaftlichen Verkauf der Erzeugnisse; „Produktiv-
genossenschaften“ für Produktion und Verkauf auf gemeinschaftliche Rechnung; Vereine zur
Herstellung von Wohnungen (5 1). Natürlich müssen alle solche Vereine außer den durch ihren
Zweck geforderten Geschäften mit ihren Mitgliedern andere Geschäfte (Hilfsgeschäfte) mit Dritten
abschließen. Daß sie nebenbei auch ihren Zweckgeschäftsbetrieb auf Nichtmitglieder ausdehnen,
ist nicht ausgeschlossen, muß aber im Statut ausdrücklich zugelassen sein (8§ 8 Abs. 1 Z. 5); nur
bei Kreditvereinen darf die regelmäßige Darlehnsgewährung und bei Konsumvereinen (mit
einer Ausnahme zugunsten landwirtschaftlicher Konsumvereine ohne offenen Laden) der regel-
mäßige Warenkauf überhaupt nicht an Fremde erfolgen (§ 8 Abs. 2—4).
Im Gegensatz zu den eigentlichen Handelsgesellschaften ist die e. G. nicht auf eine einzige
Haftungsart beschränkt. Vielmehr sind dreierlei Haftungsarten möglich, indem
die e. G. als Genossenschaft mit unbeschränkter Haftpflicht (m. u. H.), mit unbeschränkter Nach-
schußpflicht (m. u. N.) oder mit beschränkter Haftpflicht (m. b. H.) errichtet werden kann. Immer
ist die Haftung der Genossen zwar solidarisch, aber höchst subsidiär; bei der ersten und zweiten
Form ist sie unbeschränkt, bei der dritten durch eine Haftsumme begrenzt; bei der ersten und
dritten Form besteht sie unmittelbar gegenüber den Gläubigern, bei der zweiten nur gegen-
über dem Verein (5 2).
2. Geschichte. Das Recht der e. G. ist von der deutschen Gesetzgebung geschaffen,
um den aus der sog. Genossenschaftsbewegung hervorgegangenen Erwerbs- und Wirtschafts-
genossenschaften ein geeignetes Rechtsgewand darzubieten. Diese Genossenschaften wurden
zuerst besonders von Schulze-Delitzsch (1808—1883) ins Leben gerufen, später in ver-
schiedener Weise ausgebaut und (namentlich durch Raiffeisen) auch ländlichen Verhält-
nissen angepaßt. Sie sind vor allem auf die soziale Erhaltung und Hebung der mittleren und
unteren Volksschichten durch Selbsthilfe im Wege der freien Assoziation berechnet und blühen
heute in reicher Fülle in den Städten wie auf dem Lande.
Die gesetzliche Regelung erfolgte auf Grund eines zuerst ergangenen preuß.
Ges. von 1867 durch das Nordd. BG. v. 4. Juli 1868, das später zum Reichsgesetz erhoben wurde
(in Bayern erst 1873). Dieses Gesetz erkannte aber nur Genossenschaften mit unbeschränkter
Haftung an. Die Zulassung von Genossenschaften mit beschränkter Haftung in Sachsen (durch
G. v. 15. Juni 1868) und Bayern (durch G. v. 23. April 1869 über „registrierte Gesellschaften")
wurde sogar, wennschon unter Schonung der bestehenden Vereine, wieder beseitigt. Nach langem
Streit siegte in diesem Punkte die freiere Meinung. Nunmehr erging das neue R. v. 1. Mai
1889, das auch sonst reformierend eingriff. Einzelne Anderungen brachte das RG. v. 12. Aug.
1896 und das Ec. Art. 10 zum HGB. (neue Fassung vom 20. Mai 1898).
Das Genossenschaftsgesetz übt auf die dazu geeigneten Vereine keinen Zwang zur
Eintragung aus. Solche Vereine können daher, wenn sie es vorziehen, unter der Herrschaft
des bürgerlichen Rechts verbleiben. Rechtsfähigkeit erlangen sie dann nur durch staatliche Ver-
leihung (BGB. F 22). Doch können sie auch als nicht rechtsfähige Vereine leidlich bestehen
(BeB. 5 54). Kreditgenossenschaften für den Realkredit sind vielfach als Körperschaften des
öffentlichen Rechts eingerichtet.