Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

6 G. Anschütz. 
zur Nation macht: das Nationalbewußtsein. Die Kennzeichen des Begriffes liegen 
also auf subjektivem Gebiet, nicht in der Welt der äußeren Tatsachen, sondern in der Sphäre 
des Volksbewußtseins. Dasjenige Volk ist eine Nation, welches zum Bewußtsein seiner selbst, 
seiner Eigenart und damit seiner Einheit durchgedrungen ist. Auf das Wesen der Faktoren, 
welche das Nationalbewußtsein erzeugt haben, kommt es nicht an. Sicherlich sind die erwähnten 
„Gemeinschaften“ nicht die einzigen Faktoren dieser Art. Hinzuzufügen wäre namentlich noch 
die nationalisierende Macht der gemeinsamen Organisation, des Staates: ein Staatsvolk, welches 
von vormherein keine Nation war, kann eine solche werden durch den festigenden Druck der staat- 
lichen Institutionen (Schweiz, Vereinigte Staaten von Nordamerika). Solche Nationen, die 
„auf der vereinigenden Kraft einer gemeinsamen politischen Geschichte und Verfassung beruhen“, 
kann man mit Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (2. A. 1911), S. 2, 3, „Staats- 
nationen“ nennen, im Gegensatz zu den auf „gemeinsam erlebtem Kulturbesitz“ beruhenden 
„Kultur nationen“ 1. 
Staaten, deren Völker keine Nationen sind, und Nationen ohne staatliche Zusammenfassung 
erscheinen heute als Ausnahmen. Wir leben gegenwärtig in einer Welt vorwiegend nationaler 
Staaten; wir empfinden es als das allein Richtige und Natürliche, wenn ein Volk, welches 
sich als Einheit fühlt, einen Staat für sich bildet. 
2. Das Volk ist die eine (persönliche) Grundlage des Staates; die andere (räumliche oder 
territoriale) ist das Gebiet oder Land. Kein Staat ohne Volk, kein Staat ohne Gebiet. 
Das heißt: dem Staate ist unentbehrlich ein bestimmt begrenztes Stück der Erdoberfläche, auf 
dem er wirkt und allein, unter Ausschluß anderer Staaten, zu wirken beruefen ist. 
Der Satz „kein Staat ohne Gebiet“ wird zuweilen als gleichbedeutend angesehen mit dem 
anderen: das Staatsvolk muß feste Wohnsitze erworben haben, muß ein seßhaftes Volk sein 
(so auch die vorige Auflage dieser Darstellung). Das ist ein Irrtum. Weder sind die beiden Sätze 
gleichbedeutend, noch kann zugegeben werden, daß „Seßhaftigkeit“ des Volkes zu den Begriffs- 
wesentlichkeiten des Staates gehört. Man vermengt, darin liegt der Denkfehler, zwei Dinge, 
die scharf zu scheiden sind: das öffentlich-rechtliche Verhältnis der Volksgesamtheit, also des Staates, 
zu dem Gebiet und das privatrechtliche Verhältnis der einzelnen Volksgenossen zu den einzelnen 
Teilen des Gebietes. Für den Begriff des Staates kommt es nur auf jenes Verhältnis an, nicht 
auf dieses. Ein Staat ist gegeben, wenn die Volksgesamtheit ein Land als ihr Land, ihr 
Herrschaftsgebiet betrachtet, und wenn sie den Willen, vor allem aber die Macht hat, ihre Herr- 
schaft innerhalb der Grenzen dieses Landes zu behaupten und andere Staaten auszuschließen. 
Alsdann entfaltet sich eineterritorial wirksame, nicht nur das Staatsvolk, sondern alles 
im Gebiete sich aufhaltende Volk erfassende Herrschaft und Herrschertätigkeit: das ist der Staat. 
Ob und inwieweit dabei Privateigentum an Grund und Boden anerkannt und das Volk, unter 
Überwindung des Nomadentums, zur Seßhaftigkeit vorgeschritten ist, ist offenbar gleichgültig. 
Nomadenstaaten sind nicht unmöglich, sondern durchaus denkbar. Ein Nomadenvolk erfüllt 
den Begriff des Staatsvolkes, wenn es das weite Land, in dem es ohne dauemd feste Wohn- 
sitze umherschweift, als das seine ansieht und andere Völker mit Erfolg davon fermhält. 
Das Verhältnis des Staates zu seinem Gebiet hat nichts Sachenrechtliches an sich, hat nichts 
zu tun mit Eigentum oder anderen dinglichen Rechten. Der Staat beherrscht nicht das Gebiet, 
sondern herrscht innerhalb der Grenzen des Gebietes: das ist kein Eigentum oder etwas dem 
ähnliches, sondern örtliche Alleinzuständigkeit. Es ist daher auch nicht richtig, wenn eine ver- 
breitete Theorie (v. Gerber, Laband, Seydel) das Gebiet als das Objekt der Staats- 
herrschaft bezeichnet. Das Gebiet ist vielmehr der Raum, innerhalb dessen die Staatsherrschaft 
sich betätigt (so bes. Fricker u. a.; vgl. G. Meyer-An schütz § 74 und Zitate); das Gebiet 
ist „der Schauplatz der Staatsherrschaft“ (Zitelmann). Die Bedeutung des Gebietes ist eine 
doppelte Einmal die, daß alles, was sich auf dem Gebiete befindet — Personen, Sachen, 
Rechtsverhältnisse —, der Staatsherrschaft unterworfen ist: quod est in territorio, est de terri- 
torio (positive Funktion des Staatsgebietes). Sodann die, daß es jedem anderen, fremden 
1 Zur weiteren Orientierung über einschlägige Fragen vgl. G. Meyer-Anschütz, 
Staatsr. 2 Anm. 2 und a (Literaturangaben); v. Herrnritt, Lationalität und Recht (1899); 
F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (2. Aufl. 1311), S 1 ff.
	        
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