Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

98 G. Anschütz. 
tatigkeit (s. oben § 12); er — nicht der Kaiser — nimmt nach dem Wortlaut der Verfassung 
dem Reichstag gegenüber die Stellung ein, welche in dem konstitutionellen System der Re- 
gierung zukommts; er beschließt über eine Menge einzeln bestimmter Regierungs- und Ver- 
waltungsangelegenheiten (Kriegserklärung, Reichsexekution, Auflösung des Reichstages, Decharge 
der Reichsfinanzverwaltung, Angelegenheiten der Zölle und Reichssteuern, des Münz= und 
Bankwesens, Pensionierung der Reichsbeamten); ihm steht bei der Besetzung gewisser wichtiger 
Beamtenstellen (z. B. der Mitglieder des Reichsgerichts) durch den Kaiser ein Vorschlags= oder 
Wahlrecht zu. Drittens mangeln dem Bundesrate auch nicht Kompetenzen richterlicher 
Natur. Der Bundesrat entscheidet Streitigkeiten zwischen Reich und Einzelstaaten über die 
Erfüllung verfassungsmäßiger Pflichten der letzteren gegen das erstere (Art. 7 Nr. 3, 19 RV.; 
vgl. oben § 12); fermer Streitigkeiten nicht privatrechtlicher Natur zwischen den Einzelstaaten 
(Art. 76 Abs. 1 RV.) und Streitigkeiten wegen behaupteter Justizverweigerung (Art. 77 NV.). 
Der Bundesrat hat schließlich, gleichfalls ein Richteramt im weiteren Sinne des Wortes, Ver- 
fassungsstreitigkeiten in denjenigen Einzelstaaten, deren Verfassung eine Behörde zur Entscheidung 
solcher Streitigkeiten nicht kennt, gütlich auszugleichen oder, wenn das nicht gelingt, im Wege 
der Reichsgesetzgebung zur Erledigung zu bringen (Art. 76 Abs. 2, RV.). 
Für die gesamte Kompetenz und Tätigkeit des Bundesrates gilt: 1. Der Bundesrat ist nicht 
sowohl selbst, wie die beiden anderen obersten Reichsorgane, Kaiser und Reichstag, ein schlechthin 
unverantwortliches Organ, für dessen Beschlüsse weder er selbst noch ein Dritter ver- 
antwortlich gemacht werden kann. Insbesondere trifft den Reichskanzler eine solche Ver- 
antwortlichkeit nicht (s. unten S. 112). Inwieweit die einzelnen Bundesratsbevollmächtigten 
ihren Regierungen für die Befolgung und diese Regierungen weiterhin den Landtagen für den 
Inhalt der Instruktionen Rechenschaft schulden, ist eine Sache für sich (uvgl. oben S. 97). 2. Der 
Bundesrat darf seine Beschlüsse nie selbst zur Ausführung bringen; ihm mangelt die exekutive 
Gewalt i. e. S. Im allgemeinen „werden die zur Ausführung der Beschlüsse des Bundesrates 
erforderlichen Verfügungen vom Reichskanzler getroffen“ (8 27 revid. Geschäftsord. f. d. Bundes- 
rat); diese Verfügungen werden sich häufig auf Bekanntmachung der Bundesratsbeschlüsse oder 
Mitteilung derselben an die Landesregierungen beschränken, welchen letzteren dann der weitere 
Vollzug obliegt (so namentlich bei bundesrätlichen Verwaltungsvorschriften: Art. 7 Nr. 2 R V.). 
In einzelnen Fällen überträgt die RV. die Durchführung der Bundesratsbeschlüsse dem Kaiser 
(z. B. bei Reichsexekutionen: Art. 19 RV.). 
Der Bundesrat ist nach der Verfassung, Art. 12, ein periodisch tagendes Kollegium, 
dessen Berufung, Vertagung und Schließung dem Kaiser zusteht, so zwar, daß letzterer den 
Bundesrat mindestens alljährlich einmal, femer stets auf Verlangen eines Drittels der Stimmen- 
zahl, und soweit und solange der Reichstag versammelt werden will, berufen muß (Art. 13, 14). 
Tatsächlich ist der Bundesrat längst zu einer permanenten Versammlung geworden, welche 
niemals mehr geschlossen, sonderm lediglich von Zeit zu Zeit vertagt wird (letzte formelle Be- 
rufung durch kaiserl. Verordn. vom 21. August 1883; Rl. S. 285). Die Verhandlungen 
des Bundesrates sind im Gegensatz zu denen des Reichstages (Art. 22 RV.) nicht öffentlich. 
„Der Vorsitz im Bundesrate und die Leitung der Geschäfte steht denn Reichskanzler 
zu, welcher vom Kaiser zu ernennen ist“: Art. 15 Abs. 1 RV. Angesichts dieser Bestimmung 
ist die Frage aufgeworfen worden, ob mit der Übertragung des Bundesratspräsidiums an den 
Reichskanzler nicht der Grundsatz des Art. 6 RV., wonach der Bundesrat aus den „Vertretern 
der Mitglieder des Bundes“, d. h. den Bevollmächtigten der Einzelstaaten besteht, durchbrochen. 
sei, denn der Reichskanzler als solcher sei keines Einzelstaates Vertreter, sondern des Kaisers 
Beamter. Ungeachtet nun kein Geringerer als Bismarck (Reichstagsrede vom 13. März 
1877) die Meinung vertrat, daß der Reichskanzler nach der Verfassung zwar Vorsitzender, aber 
nicht Mitglied des Bundesrates sein müsse, ist doch daran festzuhalten, daß die Regel des Art. 6 
NRV. durch Art. 15 keine Ausnahme erleidet. Denn wenn die RV. es auch nicht sagt, so setzt 
sie doch voraus, daß der Reichskanzler nicht nur Vorsitzender, sondern auch stimmberechtigtes 
Mitglied des Bundesrates, daß er Bundesratsbevollmächtigter sein muß, und daß 
der ihn in den Bundesrat entsendende Einzelstaat kein anderer sein kann als die „Präsidial- 
macht“, Preußen. Daß die Stellung des Reichskanzlers im Bundesrate kein „Vorsitz ohne 
Mitgliedschaft“ ist, ergibt sich aus Art. 15 Abs. 2 RV., denn wenn es dort heißt, daß der Kanzler 
sich in der Führung des Vorsitzes „durch jedes andere Mitglied des Bundesrates ver- 
möge schriftlicher Substitution vertreten lassen“ kann, so erhellt, daß nach der Absicht der Ver-
	        
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