Deutsches Staatsrecht. 101
§ 21. Der Kaiser 1.
Das Kaisertum des heutigen Deutschen Reiches ist der Inbegriff derjenigen reichsorgan-
schaftlichen Funktionen, welche dem König von Preußen außer und neben der bevorrechteten
Stellung seines Staates im Bundesrate (Vorsitz, Geschäftsleitung, potenziertes Stimmgewicht,
Stichentscheid, Vetorechte) zustehen. Der Benennung nach ein Rückgriff auf ältere, gewesene
und geträumte Verkörperungen des Kaisergedankens, ist dies neudeutsche, auf die preußische
Staatsgewalt gegründete Kaisertum sachlich, und zwar staatsrechtlich wie politisch angesehen,
eine Neuschöpfung, die sich von jenen namens-, nicht wesensgleichen Erscheinungen: der Kaiser-
würde des alten Reiches und dem in der Paulskirche nach dem Schema der parlamentarischen
Monarchie konstruierten „Kaiser der Deutschen“, darin jedenfalls zu ihrem und des Reiches
Vorteil unterscheidet, daß sie theoretisch weniger, praktisch mehr zu bedeuten hat.
Die geschichtlichen Wurzeln der kaiserlichen Gewalt und Würde lassen sich zurückverfolgen
bis in die Vorarbeiten und Entwürfe der Norddeutschen Bundesverfassung. Aus den Macht-
befugnissen, welche dort der Krone Preußen außer und abgesehen von ihrer dominierenden
Stellung unter den verbündeten Regierungen im Bundesrat zugedacht waren, ist das heutige
Kaisertum hervorgegangen durch eine Transformation der rechtlichen Natur jener Befugnisse,
durch Veränderung des Namens ihres Trägers, durch mannigfache Erweiterungen ihres Umfangs.
Die rechtliche Natur der Präsidialgewalt außerhalb des Bundesrates war nach dem
preußischen Entwurf vom 15. Dezember 1866 (s. oben S. 56) in seiner ursprünglichen, aber
auch in der abgeänderten Gestalt, welche er durch die Beratungen mit den norddeutschen Re-
gierungen erhalten hatte, nicht die einer mit der Krone Preußen in Realunion gesetzten
Bundesorganschaft, sondem die einer Hegemonie Preußens über den
Bund, d. h. über das nichtpreußische Norddeutschland. Wenn die Entwürfe dem „Bundes-
präsidium“ die völkerrechtliche Vertretung des Bundes, ferner die Verwaltung der Post und
Telegraphie übertrugen, wenn sie den König von Preußen zum „Bundesoberfeldherm“ er-
nannten und endlich die von dem Bunde zu unterhaltende Kriegsmarine schlechtweg unter die
Kommando- und Organisationsgewalt „Sr. Majestät des Königs von Preußen“ stellten, — so
wollte mit alledem nicht gesagt sein, daß diese herworragenden, die diplomatische, militärische,
verkehrspolitische Einheit Norddeutschlands verbürgenden Funktionen auf die Bundes-
gewalt übergehen sollten, sondern der preußischen Staatsgewalt wollte man sie über-
tragen. Weder das den Bund völkerrechtlich repräsentierende Bundespräsidium, noch der
Bundesoberfeldherr, noch das Oberkommando der Marine war als Bundesamt, als Ausfluß
einer sämtliche Staaten, also auch Preußen, beherrschenden Bundesregierungsgewalt gedacht;
überall handelte es sich nicht um ein Aufgehen Preußens in Deutschland, sondern umgekehrt
um eine hegemonische Ausdehnung der preußischen Staatsgewalt auf das übrige (zunächst
Nord-)Deutschland. Im Ressort der auswärtigen Politik, der Armee und Marine, der Post
und Telegraphie sollte der Norddeutsche Bund schlechterdings nichts anderes sein als ein „ver-
längertes Preußen“ 5, sollte der König von Preußen nicht als Träger eines Bundesamts, sondem
als solcher, nicht durch Bundesbehörden, sondern durch seine preußischen Ministerien des
Auswärtigen, des Krieges, der Marine, des Handels Norddeutschland regieren und verwalten.
Man sieht: auf dieser frühesten Entwicklungsstufe zeigt das nachmals kaiserliche Amt noch keinen
föderalistischen, sondern einen hegemonialen, kaum einen nationalen, sondern einen mehr groß-
preußischen Anstrich. Eine entscheidende Wandlung dieses Charakters trat nun aber schon ein,
ehe die Entwürfe der norddeutschen Verfassung geltendes Recht wurden; sie trat ein als Rück-
wirkung der Beschlüsse des verfassungberatenden Reichstags über die staatsrechtliche Stellung
1 Literaturauswahl: Laband 1 211 ff.; Meyer-Anschütz & 127;
Schulze, Deutsch. Staatsr. 2 30 ff.; Zorn 1 §7; v. Seydel, Komm. S. 126 ff., 13 ff.;
Haenel, Studien 2 9 ff., 56 ff. und in Hirths Annal. 1877, S. 90 ff.; Preuß, in der
Ztschr. f. d. gesamte Staatswiss. 45 420 ff.; Fischer, Das Recht des Deutschen Kaisers
(1895); Bornhak im Arlrch. f. öff. R. 8 425 ff.; Binding, Die rechtliche Stellung des
Kaisers im heutigen Reiche (Vortrag 1898); Triepel, Unitarismus und Föderalismus (1907)
14 ff., 37 ff., 63 ff.; E. Rosenthal, Die Reichsregierung (1911); Walther W. Rauer,
Der deutsche Kaiser; seine Stellung im alten und im neuen Reiche (1913).
* Ausdruck Kaiser Wilhelms I., erwähnt bei Treitschke, Politik 1 40, 2 345.