Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

102 G. Anschütz. 
des Bundes(heutigen Reichs-)kanzlers. Damals wurde, auf einen von v. Bennigsen ge— 
stellten Antrag unter Zustimmung der verbündeten Regierungen, der norddeutschen Bundes- 
verfassung, Art. 17, der Satz eingefügt: „Die Anordnungen und Verfügungen des Bundes- 
präsidiums werden im Namen des Bundes erlassen und bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegen- 
zeichnung des Bundeskanzlers, welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmr.“ Die An- 
nahme dieses Antrages Bennigsen (27. März 1867; vgl. Haenel, Studien 2 17—19) 
bewirkte, worauf in anderem Zusammenhange, unten § 23, S. 110, zurückzukommen sein 
wird, zunächst eine grundsätzliche Anderung der Position des Bundeskanzlers, welcher, bis dahin 
als ein preußischer Beamter, als abhängiger Untergebener des preußischen Ministers des Aus- 
wärtigen projektiert, munmehr aus diesem Abhängigkeitsverhältnis losgelöst, mit ministerieller 
Selbständigkeit gegenüber dem Bundespräsidium ausgestattet und mit ministerieller Verant- 
wortlichkeit gegenüber Bundesrat und Reichstag belastet wurde. Weiterhin aber wirkte das 
folgenschwere Amendement zurück auf die rechtliche Natur und Stellung des Bundes- 
präsidiums. „Die Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidiums“ will heißen: 
alle Anordnungen, deren Erlaß nach der Verfassung Sache des Bundespräsidiums ist. Sie 
allc, insbesondere also auch die im Bereiche der auswärtigen Politik, der Post= und Telegraphen- 
verwaltung ergehenden Regierungsakte, sollen erlassen werden 9im Namen des Bundes“nnicht 
vom König von Preußen kraft eigenen Rechts, nicht Kraft eines Hoheitsrechts Preußens über den 
Bund, sondem als Akte des Bundes, als Ausflüsse einer Bundesgewalt, welche nicht sowohl 
die Mitverbündeten Preußens als vielmehr auch Preußen selbst überragt und beherrscht. Damit 
war die gesamte Regierungsgewalt, welche die Verfassung der Krone Preußen im Interesse 
des Bundes zuschrieb, quoad ius für den Bund reklamiert; diese Gewalt hatte, unversehens, 
möchte man sagen, ihr Subjekt gewechselt: aus der preußischen Hegemonie über den Bund 
war eine Organschaft im Bunde geworden; der Herrscher „des mächtigsten und aus diesem 
Grunde zur Leitung des Gemeinwesens berufenen Bundesstaates“ 1 verwandelte 
sich in ein Organ der Gesamtheit, in ein „Bundesoberhaup““, welcher Titel, einige 
Jahre später, durch das norddeutsche Strafgesetziuch vom 31. Mai 1870 (§§ 80, 94, 95) auch 
formell und offiziell eingeführt worden ist. So ward die hegemonische Struktur der Verfassungs- 
entwürfe durchbrochen, immerhin aber noch nicht ganz und restlos transformiert. Denn die 
Tragweite des Amendements Bennigsen umfaßte sachlich nur die Zuständigkeit des 
„Bundespräsidiums“ nach der norddeutschen Bundesverfassung, nicht weniger allerdings, aber 
auch nicht mehr. Die Regierungsgewalt des Bundespräsidiums wurde 
durch Art. 17 Satz 2 der nordd. BV. zur Bundesgewalt erklärt; die Kommandogewalt 
des „Bundesfeldherrn“ dagegen und die des Königs von Preußen als Ober- 
befehlshabers der Kriegsmarine wurde durch Art. 17 nicht berührt, blieb von 
der konstitutionellen Verantwortlichkeit des Bundeskanzlers frei und blieb unter der Herrschaft 
der norddeutschen Bundesverfassung das, was sie nach deren Entwürfen sein sollte: preußische 
Hegemonie. Erst bei der Erweiterung des Norddeutschen Bundes zum Deutschen Reiche 
verschwand dieser starke letzte Rest des „verlängerten Preußens“ aus der Verfassung, wurde 
auch die Kommandogewalt über Heer und Flotte nationalisiert. Sie wurde es — nicht schon 
durch die Novemberwerträge von 1870, welche eine Anderung in der staatsrechtlichen Stellung 
des Bundespräsidiums und Bundesfeldherrn überall nicht beabsichtigten, wohl aber durch die 
Einführung des Kaisertitels (s. oben S. 62) und durch die Folgerungen, welche die Neuredaktion 
der RV. (16. April 1871) aus dieser Einführung gezogen hat. 
Über die Vorgänge und maßgebenden Absichten bei dieser „Erneuerung der deutschen 
Kaiserwürde"“ sind wir namentlich durch Bismarck (Gedanken und Erinnerungen 2 115 ff.) 
genau unterrichtet. „Die Annahme des Kaisertitels war ein politisches Bedürfnis, weil er in 
den Erinnerungen aus Zeiten, da er rechtlich mehr, faktisch weniger zu bedeuten hatte, ein 
werbendes Element für Einheit und Zentralisation bildete“ (a. a. O. S. 115); — der Glanz 
der alten Kaiserkrone, der Erinnerungswert dieses ehrwürdigen, tausendjährigen Symbols 
deutscher Einheit sollte unverloren bleiben, sollte für das neue Reich nutzbar gemacht werden. 
" Formulierung des Hegemoniegedankens in der Thronrede zur Eröffnung des verfassungs- 
— 
beratenden Reichstages; vgl. Preuß in der oben S. 101 Anm. 1 zitierten Abhandlung S. 428.
	        
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