Deutsches Staatsrecht. 103
Das ist das eine. Das andere Motiv der Einführung des Kaisertitels aber ist die volle und be-
wußte Überwindung des Gedankens der preußischen Hegemonie. Wenn Bismarck dem
König Ludwig von Bayern nahelegte (a. a. O. S. 117, 118; 1 353), „daß die bayrische
Krone die Präsidialrechte dem Könige von Preußen (sc. als solchen) ohne Verstimmung des
bayrischen Selbstgefühls nicht werde einräumen können; preußische Autorität
innerhalb der Grenzen Bayerns ausgeübt, sei neu und werde die
bayerische Empfindung verletzen, ein deutscher Kaiser aber sei nicht der im Stamme ver-
schiedene Nachbar Bayems, sondern der Landsmann“" .. schicklicher Weise“ könne
daher König Ludwig die der Autorität des Präsidiums bereits zugesagten, wiewohl noch nicht
ratifizierten Konzessionen „nur einem Deutschen Kaiser, nicht aber dem
Könige von Preußen machen“; — wenn König Ludwig diesen Gedankengang Wort
für Wort sich zu eigen machte und in Ubereinstimmung mit allen deutschen Regierungen seinen
Antrag auf Annahme des Kaisertitels entsprechend motivierte 11# — wenn endlich der erste
Kaiser des neuen Reiches in jener denkwürdigen Versailler Proklamation vom 18. Januar
1871 dem deutschen Volke kundtat: „.„Demgemäß werden Wir und Unsere Nachfolger an der
Krone Preußens fortan den Kaiserlichen Titel in allen Unsern Beziehungen und Angelegen-
heiten des Deutschen Reiches führen“, so erhellt aus alledem der Sinn, in welchem vomehmlich
die Kaiserwürde angeboten und angenommen wurde: völlige Aufgabe des Hegemoniegedankens
und Vereinigung sämtlicher der Krone Preußen außerhalb der Bundesratssphäre zu-
stehender Präsidialrechte, einschließlich der Kommandogewalt über Heer
und Marine, zu einem einheitlichen obersten Reichsamt: zum Kaisertum. Es war
einfacher Vollzug des Willens aller Beteiligten, wenn die Neuredaktion der Reichsverfassung
vom 16. April 1871 die Bezeichnung „Kaiser" nicht nur an den Stellen einsetzte, wo die nord-
deutsche Bundesverfassung den Ausdruck „Bundespräsidium“ gebrauchte (Art. 11, 17, 18, 36,
50 usw.), sondern auch dort, wo (wie z. B. in Art. 53, 63) früher der „König von Preußen“
als solcher schlechthin oder als „Bundesfeldherr“ figurierte.
So gelangte die Nationalisierung der Präsidialgewalt, die Transformation der Hegemonie
in das Reichsamt zum formellen Abschluß. Über die staatsrechtliche Natur des Kaisertums ist
daher zuerst dies zu sagen: Das deutsche Kaisertum ist nicht die preußische Hegemonie über das
außerpreußische Deutschland, vielmehr die lebendige Verneinung dieser Hegemonie. Die kaiser-
lichen Regierungsrechte sind nicht Bestandteile oder Zubehörstücke der preußischen Staatsgewalt,
sonderm Inhalt einer mit der Krone Preußen real unierten Reichsorganschaft. Wenn
der Kaiser in Baden eine Festung anlegen läßt, die Errichtung einer Oberpostdirektion in Hessen
befiehlt, wenn er in Württemberg oder Sachsen die dortigen Truppen inspiziert, so übt er mit
alledem nicht preußische Staatsgewalt auf nichtpreußischem Boden, sondern des Reiches Gewalt
im Reiche aus.
Diese Reichsorganschaft ist eine unmittelbare Organschaft. Das heißt: der Kaiser
repräsentiert innerhalb seiner verfassungsmäßigen Zuständigkeit den Willen des Reiches, die
Reichsgewalt, ebenso unmittelbar wie die beiden anderen Hauptorgane, Bundesrat und Reichs-
tag. Der Kaiser erläßt seine Anordnungen und Verfügungen „im Namen des Reichs“
(Art. 17 RV.). Dies besagt — ein neuer Sinn der vielbedeutenden Worte! — es steht nie-
mand zwischen Kaiser und Reich. Der Kaiser hat kein noch höheres Organ des Reiches über
sich, er ist keines anderen Organes Delegatar; er wird von niemand emannt noch abgesetzt,
keiner Stelle im Reich ist er verantwortlich. Allerdings übt er kein eigenes und ursprüngliches,
sondern abgeleitetes, fremdes Recht aus (ebensowenig wie der Monarch im Einheitsstaate,
Das Schreiben des Königs von Bayern an König Wilhelm I. abgedruckt z. B. bei Zorn,
Staatsr. 1 51. Bemerkenswert namentlich die Wendung, durch die Wiederherstellung der Kaiser-
würde solle ausgedrückt werden, daß die mit der Krone Preußen verbundenen Präsidialrechte
Rechte seien, welche Ew. Majestät im Namen des gesamten deutschen Vater-
landes auf Grund der Einigung seiner Fürsten ausüben“.
: Gegen diesen Gedanken wendet sich Bismarck auch a. a. O. 2 115:„„ und ich war über-
zeugt, daß der festigende Druck (von Kaisertum und Kaisertitel) auf unsere Reichsinstitutionen
um so nachhaltiger sein würde, je mehr der preußische Träger desselben das gefährliche . . Be-
streben vermeide, den anderen Dynastien die Überlegenheit der eigenen unter die Augen zu rücken“,
d. h. den Hegemoniegedanken zum Ausdruck zu bringen.