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vgl. oben S. 9ff., 25, 26), aber dies Recht gehört dem Reiche, d. h. der nationalen korporativen
Staatspersönlichkeit, nicht einer von dieser verschiedenen anderweiten Korporation oder Organ-
persönlichkeit, insbesondere nicht der Staatengesamtheit, repräsentiert durch die verbündeten
Regierungen, verkörpert im Bundesrat. „Im Namen des Reichs“ heißt nicht „im Namen
der verbündeten Regierungen“ (unrichtig v. Seydel, Komm. S. 126, Jellinek,
Staatsl. 540 Anm. 2), sondern, wie jene bayerische Aufforderung zur Annahme des Kaiser-
titels — oben S. 103 Anm. 1 den Ausdruck wendet: „im Namen des gesamten deutschen
Vaterlandes“. — Freilich stellen die verbündeten Regierungen im Bundesrate den Träger,
das in diesem Sinne „oberste“ Organ der Reichsgewalt dar (oben S. 10, 25), diese Träger-
schaft bedeutet aber nuur Präsumtion der Kompetenz, nicht Suprematie über den
Kaiser, noch gar Inhaberschaft der gesamten Reichsgewalt zu eigenem Recht, eine Stellung,
welche alle anderen Reichsorgane, den Kaiser nicht ausgeschlossen, zu Delegataren dieses obersten
Machthabers herabdrücken würde. Der Kaiser ist dem Repräsentanten des Trägers der Reichs-
gewalt, dem Bundesrate staatsrechtlich gleichgeordnet, zeremoniell übergeordnet. Dele-
gatar des Bundesrates bzw. der verbündeten Regierungen ist er
nicht. Seine Organschaft ist eine unmittelbare Organschaft.
Das Wesen dieser Organschaft bestimmen heißt einen allgemeineren Rechtsbegriff auf-
suchen, dem sie sich einordnen läßt. Es darf behauptet werden, daß es einen solchen Begriff:
einen einzigen, dem das Kaisertum überall entspricht, nicht gibt. Die Verfassung (Art. 11)
bezeichnet das Kaisertum als „Präsidium des Bundes“, d. h. des Deutschen Reiches. Damit
ist nichts erklärt. Als Gesamterscheinung ist unser Kaisertum eine Organschaft eigener Art.
Im Sinne des Völkerrechts ist der Kaiser Staatsoberhaupt, die „Re-
gierung“ des Deutschen Reiches. Denn er repräsentiert seinen Staat, das Deutsche Reich,
im Staatenverkehr, und er repräsentiert es voll, ohne Konkurrenz eines anderen, diese Ver-
tretungsmacht nach außen beschränkenden Organs. Sein Wort, seine Unterschrift sind zur
völkerrechtlichen Verpflichtung des Reiches ebenso erforderlich wie ausreichend.
Faßt man nun die staats rechtliche Stellung des Kaisers, sein Verhältnis zu den
andern Organen und zu den Obiekten der Reichsgewalt ins Auge, so versagen alle hergebrachten
Begriffe und Schablonen. Der Kaiser ist etwas anderes und mehr als ein Beamter:
niemand ernennt ihn und stellt ihn an, der ohne Zutun selbst des „Reichssouveräns“, der im
Bundesrate sich verkörpernden Staatengesamtheit, Kaiser wird; er kann unter keinen Um-
ständen von irgendeiner Stelle im Reich zur Verantwortung gezogen werden. Er ist also auch
nicht (ungeachtet der Bezeichnung „Präsidium“ im Art. 11) „Präsident“ des Reiches im
Sinne des republikanischen Staatsrechts (Frankreich, Nordamerika); auch kein „erblicher" Prä-
sident. Anderseits ist er auch nicht der Monarch des Reichs. In vollem und bewußtem
Gegensatz zu dem Werke der Frankfurter Paulskirche ist die Krönung des heutigen Reichsbaues
mit einer „monarchischen Spitze“ weder beabsichtigt noch bewirkt worden. Von den Absichten
der Reichsgründer war bereits — oben S. 93 ff. — die Rede. Weder die Richtung dieser
Absichten noch das, was sie erreicht haben, die positive Gestaltung des Kaisertums, berechtigt
dazu, hier von einer monarchischen Herrschergewalt zu reden, — man müßte denn den über-
lieferten festen Begriff der Monarchie ins Nebelhafte und Grenzenlose verflüchtigen. Jeden-
falls ist der Kaiser nicht Reichsmonarch im Sinne des deutschen Landesstaatsrechts. Dieses
(vgl. unten § 26) läßt die gesamte Staatsgewalt trägerschaftlich in der Person des Monarchen
vereinigt sein, ein Moment, welches, wie erwähnt, bei dem Kaiser nicht zutrifft, denn nicht
er, sondern die Gesamtheit der Einzelstaaten ist der Träger der Reichsgewalt, nicht er, sonderm
der diesen Träger repräsentierende Bundesrat besitzt die Präsumtion der Zuständigkeit; „die
Souveränetät ruht nicht beim Kaiser, sie ruht bei den verbündeten Regierungen" (Bismarck,
im Reichstage, 19. April 1871). Der Kaiser hat nur diejenigen Rechte und Funktionen, welche
ihm die Verfassung oder besondere Gesetze ausdrücklich übertragen. Diese Funktionen liegen
ganz vorwiegend auf dem Gebiete der vollziehenden Gewalt, der Exekutive. An der richter-
lichen Gewalt des Reiches ist der Kaiser nicht, auch nominell nicht, beteiligt: die Urteile des
Reichsgerichts ergehen nicht in seinem Namen, sondern im Namen des Reichs. Und sein Anteil
an der gesetzgebenden, also der obersten Funktion der Reichsgewalt ist ein rein formaler: er
beschränkt sich auf die Ausfertigung und Verkündigung dessen, was der Bundesrat unter Zu-