106 G. Anschütz.
folgerecht und Thronfolgeordnung in Preußen sind durch Art. 11 RV. nicht etwa in Reichsrecht
verwandelt und damit der Abänderung durch die preußische Gesetzgebung entrückt, sondern
Landesrecht, preußisches Recht geblieben. Das Reich akzeptiert dieses Landesrecht vorbehaltlos,
einschließlich aller Abänderungen, welche es künftighin durch die gesetzgebenden Faktoren
Preußens etwa erfahren möchte. Reichsrechtlich, also mit bindender Kraft auch für Preußen,
festgelegt ist nur der Grundsatz, daß der deutsche Kaiser und der König von Preußen stets eine
und dieselbe Person sein müssen. Daraus ergeben sich zwei Folgerungen: 1. daß der Verzicht
des Königs von Preußen auf die Königskrone (vgl. unten § 29) den auf die Kaiserkrone von
selbst in sich schließt; 2. daß derjenige, welchem nach preußischem Staatsrecht die Ausübung
der Regierungsgewalt für den regierungsunfähigen König zusteht, der Regent wie der Re-
gierungsstellvertreter im engeren Sinne (vgl. unten § 30), auch die kaiserlichen Regierungs-
funktionen vertretungsweise wahrzunehmen hat, in diesem Sinne also Kaiser ist, wenn er
gleich nicht Kaiser heißt, den Kaisertitel vielmehr Sr. Majestät dem vertretenen Könige
überlassen muß. Aus der Staatspraxis: Verordnungen über die Einsetzung und Beendigung
einer Regierungsstellvertretung im Reiche und in Preußen vom 4. Juni und 5. Dezember 1878
(RGBl. 101 und 363, Preuß. GS. 253 und 315); vgl. auch die Erlasse des Kaisers und Königs
vom 27. Mai 1910, RGBl. 791, Preuß. GS. 63.
§ 22. Der Reichstag 1.
Während das, was im alten deutschen Reiche „Reichstag“ hieß, heute seine geschichtliche
Fortsetzung im Bundesrate findet (s. oben S. 95), ist der altehrwürdige Name jetzt über-
tragen auf einc organische Einrichtung, welche das alte Reich nicht kannte noch kennen konnte,
weil es die Neuzeit, deren politischer Geist aus dieser Einrichtung redet, nicht mehr erlebt hat.
In diesem Hauptstücke seiner Verfassung vornehmlich zeigt das neue Reich sich als konstitutio-
neller Staat. Der Reichstag verwirklicht, was seit Anbeginn der nationalen Einheitsbestrebungen
des 19. Jahrhunderts: neben dem Kaisergedanken unserer Väter Traum und Sehnsucht war,
er verkörpert die Idee, welche von der Frankfurter Paulskirche zum erstenmal in feste, staats-
rechtliche Formen gegossen wurde: der Reichstag ist das deutsche Parlament.
„Die Mitglieder des Reichstages,“ sagt die RV., Art. 29, „sind Vertreter des gesamten
Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden.“ Ein Artikel, dessen Wortlaut der
preußischen Vll. Art. 83 nachgebildet ist und wohl in jeder modernen Verfassung seine Parallel-
stelle findet: er enthält sozusagen gemeingültiges konstitutionelles Staatsrecht und zeigt, in
Verbindung mit dem andern Satze, wonach der Reichstag aus — allgemeinen, direkten, ge-
heimen — Wahlen des ganzen deutschen Volkes hervorgeht (RV. Art. 20),
an, was man in Gestalt des Reichstages schaffen wollte: eine Volksvertretung im
Sinne der konstitutionellen Staatsordnung. Diesem Begriffe entsprechend ist der Reichstag
ein kollegialisches unmittelbares (s. oben S. 93, 103) Reichsorgan, welches den Ein-
fluß des Reichsvolkes auf die Ausübung der Reichsgewalt durch Bundesrat und Kaiser ver-
mitteln soll, und dessen Mitglieder demgemäß durch Wahlen der Bevölkerung bezeichnet werden.
Die allgemeinen, in anderem Zusammenhange (s. unten § 32) zu betrachtenden Merk-
male des Begriffes „Volksvertretung“ finden sich sämtlich beim Reichstage wieder, insbesondere
jenes negative, im Art. 29 RV. zum Ausdruck gebrachte Merkmal, wonach zwischen Reichstag
und Volk, zwischen Gewählten und Wählern nicht sowohl kein „Auftrag“, keine „Instruktion“
als vielmehr überhaupt kein Rechtsverhältnis besteht (s. unten S. 109). In den Einzelheiten
seiner staatsrechtlichen Ausgestaltung ist der Reichstag teils nach dem Vorbilde der deutschen
Landtage, namentlich des preußischen Landtages, gemacht — so z. B. in bezug auf die
allgemein rechtliche Stellung, das Ausmaß der Zuständigkeit, die Privilegien der Reichstags-
mitglieder —, teils nach dem Muster der Frankfurter Verfassung und des „Reichswahlgesetzes“
vom 12. April 1849 (vgl. oben S. 49, 55, 56); dies gilt bezüglich der Bildung des Reichstags,
—
i: v. Secydel in Hirths Annal. 1880, S. 332 ff., und Komm. z. R. S. 190 ff.;
Laband 1 293 ff.; Meyer-Anschütz 399 ff.; Zorn, Staatsr. 1 213 ff.; Loening.
Grundzüge 75 ff.; v. Jagemann, Reichsverfassung 115 ff.
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