Deutsches Staatsrecht. 109
oder Sitzungsperioden zerfällt. Die Legislaturperiode beginnt jeweils mit dem vom
Kaiser festgesetzten Tage der allgemeinen Wahlen (so die herrschende Ansicht, vgl. Laband,
Staatsr. 1 340 Anm. 11) sie endigt durch Zeitablauf, d. h. nach Ablauf von fünf Jahren
(RV. Art. 24 in der Fassung der Nov. vom 19. März 1888) oder durch Auflösung, welche
letztere durch Beschluß des Bundesrates, vorbehaltlich der Zustimmung des Kaisers (NV.
Art. 24;; vgl. Art. 25), erfolgt. Innerhalb der Legislaturperiode werden die Geschäfte des
Reichstags in Sitzungsperioden (Sessionen) erledigt, deren jede durch Berufung und
Eröffnung des Reichstags seitens des Kaisers (RV. Art. 12) begonnen wird (kein Selbst-
versammlungsrecht). Der Reichstag muß alljährlich zu einer ordentlichen Session (Art. 13)
und kann außerdem nach Ermessen des Kaisers berufen werden. Die Sitzungsperiode wird
beendigt durch Schließung ;z eine tatsächliche (nicht rechtliche) Unterbrechung der Sessions-
arbeit kann durch Vertagung bewirkt werden. Schließung wie Vertagung sind Präro-
gative des Kaisers (RV. Art. 12), mit der Maßgabe, daß eine Vertagung auf länger als 30 Tage
und jede Wiederholung der Vertagung innerhalb derselben Session der Zustimmung des Reichs-
tags bedarf (Art. 26). Das Recht, seine Sitzungsperioden selbst zu schließen oder sich während
derselben formell zu vertagen, steht dem Reichstag nicht zu. Unter den ersten Geschäften jedes
Reichstags (d. h. jeder Session) figuriert die Beschlußfassung über die „Legitimation der Mit-
glieder“ (RV. Art. 27), d. h. die Vornahme der Wahlprüfungen, sowie die Wahl des Präsidenten,
der Vizepräsidenten und Schriftführer (RV. 1. cit.).
Die Geschäftsformen des Reichstags sind nur zum geringsten Teile durch die RV. (nur
zwei Bestimmungen: Art. 22 Abs. 1, Offentlichkeit der Verhandlungen, und Art. 28, Beschluß-
fähigkeit), im übrigen durch die Geschäftsordnung geregelt, welche der Reichstag auf
Grund des Art. 27 a. a. O., sich selbst gegeben hat (geltende, von Session zu Session stillschweigend
übemommene Fassung vom 10. Februar 1876, abgedruckt z. B. bei Triepel, Quellensamml.
z. deutschen Reichsstaatsr. S. 188 ff., ferner in der Ausgabe der RV. von Pröbst-
Oeschey, 4. Aufl., S. 205 ff.
Über die Rechtsverhältnisse der einzelnen Reichstagsmitglieder (Abgeordneten) trifft die
NRV. folgende Bestimmungen:
1. Die Mitglieder des Reichstages sind in Ausübung ihres Berufes unabhängig von ihren
Wählemz; sie sind überhaupt „an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden“ (Art. 29).
2. Sie genießen volle Freiheit der Meinungsäußerung. Kein Mitglied des Reichstags
darf zu irgendeiner Zeit wegen der in Ausübung seines Berufes getanen Außerungen gerichtlich
oder disziplinarisch verfolgt oder sonst außerhalb der Versammlung (d. h. anders als durch An-
wendung der geschäftsordnungsmäßigen Disziplinarmittel des Reichstags: Ordnungsruf, Wort-
entziehung, Ausschluß von der Sitzung) zur Verantwortung gezogen werden (Art. 30.
3. Ohne Genehmigung des Reichstages kann kein Mitglied desselben während der Sitzungs-
periode wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung zur Untersuchung gezogen oder verhaftet
werden, außer wenn es bei Ausübung der Tat oder im Laufe des nächstfolgenden Tages er-
griffen wird. Gleiche Genehmigung ist bei einer Verhaftung wegen Schulden erforderlich.
Auf Verlangen des Reichstages wird jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied desselben und
jede Untersuchungs- oder Zivilhaft für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben (Art. 31).
4. „Die Mitglieder des Reichstages dürfen als solche keine Besoldung beziehen. Sie
erhalten eine Entschädigung nach Maßgabe des Gesetzes“: Art. 32 in der Fassung des Gesetzes
vom 21. Mai 1906. Das hier in Bezug genommene Gesetz ist am gleichen Tage, 21. Mai 1906,
ergangen. Es gewährt den Reichstagsmitgliedern: a) freie Fahrt auf allen deutschen Eisen-
bahnen für die Dauer der Sitzungsperiode sowie acht Tage vor deren Beginn und acht Tage
nach dem Schluß; b) eine „Aufwandentschädigung“ in Höhe von jährlich 3000 Mark. Bedingung
für den Bezug dieses Jahrgeldes ist die Anwesenheit des Abgeordneten in den Plenarsitzungen
des Reichstags. Die Anwesenheit wird ausschließlich dadurch nachgewiesen, daß der Ab-
geordnete sich während der Sitzung eigenhändig in eine Liste einträgt. Wer einer Plenar-
sitzung fernbleibt, erleidet einen Abzug von 20 Mark von der nächstfälligen Entschädigungsrate.
A. M. Arndt, Kommentar zur RV., zu Art. 24 Note 2, welcher die Legislaturperiode
vom Tage des ersten Zusammentretens des Reichstags beginnen lassen will.