Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

110 G. Anschütz. 
§ 23. Der Reichskanzler 1. 
Dreifach ist die Stellung, welche das Staatsrecht des Deutschen Reiches dem Reichs- 
kanzler zuweist: der Reichskanzler ist Vorsitzender des Bundesrates, verantwortlicher Minister 
des Kaisers und, in unmittelbarer Unterordnung unter den Kaiser, oberster Chef und Dienst- 
vorgesetzter aller Reichsbehörden. Nach drei Seiten ist er verantwortlich: dem Kaiser, denn 
dieser ernennt ihn und kann ihn jederzeit entlassen (RV. Art. 15), dem Bundesrat und dem 
Reichstag nach Art. 17 RV. Und ferner: es ist, wenn auch nicht staatsrechtlich gefordert, so 
doch eine politische Notwendigkeit und stets als solche eingesehen worden, daß der Reichskanzler 
als der im Reiche verantwortlich leitende Staatsmann auch in Preußen, innerhalb der preußischen 
Staatsregierung eine führende Stellung einnimmt (s. unten). So ist der Reichskanzler durch 
Verfassung und Staatspraxis mitten hinein gestellt zwischen die maß-- und richtunggebenden 
Mächte des deutschen Staates: zwischen die drei Hauptorgane des Reiches, zwischen die Reichs- 
gewalt und Preußen. Seine oberste politische Pflicht ist es, zwischen diesen Mächten zu ver- 
mitteln, Reibungen und Kollisionen zu verhüten, für die Erhaltung des notwendigen Gleich- 
gewichts Sorge zu tragen. 
Die gewaltige, an Macht und Verantwortlichkeit reiche Stellung hat sich schrittweise ent- 
wickelt. Ursprünglich, im Stadium der Entwürfe der norddeutschen Bundesverfassung, war 
sie lediglich als Bundesratspräsidium gedacht. Alles Weitere ist später hinzugekommen. 
1. Von der Stellung des Reichskanzlers im Bundesrate war bereits oben, S. 98, 99, die 
Rede. Die RV., Art. 15 schreibt ausdrücklich vor, daß der Reichskanzler Vorsitzender und 
Geschäftsleiter des Bundesrates ist. Sie setzt fermer als selbstverständlich voraus, daß er stimm- 
führendes Mitglied dieser Körperschaft, und zwar Bevollmächtigter Preußens sein muß. UÜber 
das Verhältnis des Kanzlers in dieser seiner letzteren Eigenschaft zur preußischen Staats- 
regierung sagt die Verfassung nichts. An und für sich würde dieses Verhältnis das gleiche sein 
dürfen, ja kein anderes sein können, als dasjenige jedes Bundesratsbevollmächtigten zu seiner 
Regierung, nämlich ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis, kraft dessen der Bevollmächtigte 
im Bundesrate, insbesondere bei Abstimmungen, sich den ihm erteilten Instruktionen gemäß 
zu verhalten hat und seiner Regierung für diese Innehaltung verantwortlich ist, — wenn dem 
nicht die verfassungsmäßig notwendige Stellung des Kanzlers als selbständigen Reichministers 
(RV. Art. 17, s. unten Nr. 3) entgegenstünde. Solange diese letztere Stellung dem Kanzler 
noch nicht zugedacht war, also in dem Stadium der Entwürfe der norddeutschen Bundesverfassung 
vor ihrer Amendierung durch den verfassungsberatenden Reichstag im Sinne des Antrags 
Bennigsen (oben S. 102), konnte es, wie dies tatsächlich der Fall war, im Plane liegen, 
den „Bundeskanzler“ lediglich dasjenige sein zu lassen, „was man in Frankfurt zu bundes- 
täglichen Zeiten einen Präsidialgesandten nannte“, einen Kommissar, „der seine Instruktionen 
von dem preußischen Minister der auswärtigen Angelegenheiten zu empfangen hatte und der 
nebenher das Präsidium im Bundesrat hatte“ (Bismarck im Reichstage, 5. März 1878). 
Nachdem aber jene Anderung und Erhöhung des Kanzleramtes akzeptiert worden war, konnte 
es bei der ursprünglich beabsichtigten Abhängigkeit von einer preußischen Ministerialinstanz 
nicht verbleiben. Schon 1867 wurde dies allerseits eingesehen, und es ist seitdem ein unum- 
strittener, wenngleich in den Kreis der Verfassungs rechts sätze niemals aufgenommener 
Fundamentalsatz der deutschen Verfassungspolitik geblieben, daß der eine, welcher die kaiser- 
liche Politik vor Bundesrat und Reichstag verantwortlich zu vertreten hat, mit dem andem, 
welchem die Leitung der Beziehungen Preußens zum Reiche, insbesondere also die Instruierung 
der preußischen Bundesratsstimmen, ressortmäßig obliegt, stets eine und dieselbe Person sein 
1 Laband 1 375 ff.; Meyer-Anschütz §135; Zorn 1 251 ff.; Haenel, Organisat. 
Entwicklung der RV. S. 24 ff., 31 ff.; v. Seydel, Staatsrechtl. und politische Abhandl. N. F. 
S. 126 ff.; O. Hensel in Hirths Annal. 1882, S. 1 ff.; H. Preuß in der Ztschr. für die 
gesamte Staatswissenschaft Bd. 45 S. 420 ff.; Joel in Hirths Annal. 1878, 402 ff.; Smend 
das. 1906, 321 ffl.; Rosenberg, Die staatsrechtl. Stellung des Reichskanzlers (1889); 
Triepel, Unitarismus und Föderalismus 64 ff.; Rosenthal, Die Reichsregierung (1911). 
— Bismarcks Reden im Reichstage vom 1. Dezember 1874, 12. Dezember 1876, 5. März 1878, 
sowie „Gedanken und Erinnerungen“ 2 209, 307 ff.
	        
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