Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

112 G. Anschütz. 
anderseits aber eine verantwortliche, das heißt selbständige und unabhängige Stellung. 
Der Reichskanzler ist ein verfassungsmäßig notwendiger, nicht zu umgehender Beamter und 
Regierungsgehilfe des Kaisers, ein Diener, dessen (nicht der Person, sondern der Institution!) 
der Herr bedarf, um zu „regieren“", um überhaupt staatsrechtlich gültige, ohne Verfassungs- 
bruch vollziehbare Entschließungen fassen zu können. Der Satz: die Anordnungen und Ver- 
fügungen des Kaisers bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, 
welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt“ (RV. Art. 17), bedeutet: der Wille des 
Kaisers erlangt nur staatsrechtliche Gültigkeit, wenn der Wille des Kanzlers sich ihm anschließt, 
— wobei an den Regelfall gedacht ist, daß der Anschluß durch Gegenzeichnung des kaiserlichen 
Akts (Kontrasignatur) bekundet wird. Genau genommen erzeugt jedoch nicht die Kontrasignatur, 
sondern die durch sie unwiderleglich bezeugte Billigung des keaiserlichen Akts die Verant- 
wortlichkeit des Kanzlers; dies wird wichtig, wenn — z. B. bei mündlich erteilten kaiserlichen 
Befehlen — eine Gegenzeichnung nicht stattfindet. Die Billigung kann auch stillschweigend, 
d. h. durch Verbleiben im Amte nach und trotz Kenntnis der kaiserlichen Handlung, erklärt 
werden. Der Entschluß des Reichskanzlers über Leistung oder Verweigerung der Kontra- 
signatur ist und gilt stets als ein rechtlich freier. Durch den Befehl des Kaisers, einen Regierungs- 
akt gegenzuzeichnen, wird der Reichskanzler weder gebunden noch gedeckt; den die Kontra- 
signatur verweigemmden Kanzler kann der Kaiser zwar entlassen, nicht aber zum Gehorsam 
zwingen, der tatsächlich geleistete Gehorsam wäre eine rechtlich freie Tat, welche voll und allein 
dem Täter, also dem Reichskanzler, niemand sonst anzurechnen ist. 
Gegenständlich erstreckt sich die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers 
a) extensiv auf „die', d. h. auf alle „Anordnungen und Verfügungen des Kaisers", 
d. h. auf den Gesamtbereich der kaiserlichen Regierungsgewalt 1. Der kaiserlichen Re- 
gierungsgewalt: soweit die Regierungsgewalt im Reiche nicht dem Kaiser, sondern dem Bundes- 
rate zusteht (s. oben S. 98), ist sie der Verantwortlichkeit des Reichskanzlers entrückt; für die 
Beschlüsse des Bundesrates kann der Reichskanzler nicht verantwortlich gemacht werden, viel- 
mehr wird er durch dieselben ebenso gebunden wie gedeckt. Ebenso erstreckt sich seine Verant- 
wortlichkeit, obwohl die RV. dies nicht ausdrücklich hervorhebt, auf seine gesamte eigene Amts- 
tätigkeit als Chef der Reichsverwaltung (s. unten S. 113, 114), einschließlich aller Tätigkeit, die unter 
seiner vorherigen oder nachträglichen, ausdrücklichen oder stillschweigenden Billigung von den 
Reichsbehörden entfaltet wird (es sei denn, daß seine Verantwortung durch die eines Stell- 
vertreters lunten S. 113] ausgeschaltet ist). 
b) Intensiv zunächst auf die Verfassungs- und Gesetzmäßigkeit, weitergehend aber 
auch auf die Zweckmäßigkeit und politische Rätlichkeit der kaiserlichen Regierungshandlungen. — 
Mittel, um die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers im Einzelfalle zu realisieren, bietet 
erstens das Zivilrecht, zweitens das Strafrecht, drittens das Disziplinarrecht. In Zivil- und 
Strafsachen wider den Kanzler würden die ordentlichen Gerichte (kein privilegierter Gerichts- 
stand) zuständig sein; Dienst- und Disziplinargewalt über den Reichskanzler steht nur dem Kaiser 
zu. Viertens kann die Verantwortlichkeit geltendgemacht werden von Bundesrat und Reichstag. 
Man hat sich daran gewöhnt, diese Seite des Verantwortlichkeitsverhältnisses als „olitische“ 
Verantwortlichkeit zu bezeichnen. Diese Bezeichnung ist unzutreffend, soweit sie einen Gegensatz 
zu rechtlicher Verantwortlichkeit ausdrücken will. Auch die Verantwortlichkeit gegenüber 
dem Reichstag ist eine rechtliche, nicht eine bloß faktische: Art. 17 RV., der sie statuiert, ist ein 
Rechtssatz. Sie ist auch durch Rechtsinstitutionen gewährleistet und gesichert. Freilich nicht 
  
1 An der Ansicht (vgel. die Voraufl. S. 556), daß die vom Kaiser kraft seiner militäri- 
schen Kommandogewalt erlassenen Anordnungen und Befehle keiner Gegenzeichnung 
bedürfen, kann nicht festgehalten werden (vgl. die eingehenden und überzeugenden Ausführungen 
bei F. Frhr. Marschall v. Bieberstein, Verantwortlichkeit und Gegenzeichnung bei An- 
ordnungen des obersten Kriegsherrn (19111, insbesondere 125 ff., 217 ff., 315 ff.). Die Verant- 
wortlichkeit des Reichskanzlers erstreckt sich auch auf diesen Teil der kaiserlichen Gewalt. Freilich 
ist zu beachten, daß militärische Befehle des Kaisers von den Personen des Soldatenstandes auch 
ohne Gegenzeichnung befolgt werden müssen, insoweit also, trotz fehlerhafter Form, vollziehbar 
sind. Dies erklärt sich aus der den Militärpersonen obliegenden Pflicht zu unbedingtem (R. 
Art. 64 Abs. 1) Gehorsam. Vglgl. Marschall v. [Bieberstein a. a. O. 371 ff.
	        
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