Deutsches Staatsrecht. 113
durch den Apparat der sog. Ministeranklage (s. unten S. 127); diesen kennt das Reichsstaatsrecht
nicht, und mag man unter dem Gesichtspunkte, daß gerade in dem Anklagerecht der Volks-
vertretung die Perfektion des konstitutionellen Regierungssystems zu suchen sei, den Art. 17
immerhin eine „lex imperfecta“ nennen. Aber sonstige Einrichtungen kommen in Betracht.
Es ist Rechts pflicht des Kanzlers, die kaiserliche Politik als die seinige vor den beiden gesetz-
geberischen Versammlungen, soweit er kann, zu vertreten, Rechtspflicht, auf Anfragen und
Interpellationen 1 im Reichstag zu antworten; ein Rechtsmittel, nicht nur ein politisch-parla-
mentarisches Machtmittel von gleichviel welcher materiellen Bedeutung, liegt in der Befugnis
des Reichstags, seine von der des Reichskanzlers abweichende Ansicht in Form einer Resolution?
oder Adresse oder durch Verweigerung der „Entlastung“ (RV. Art. 72) zu dokumentieren.
Die Stellvertretung des Reichskanzlers in der hier erörterten Eigenschaft als verantwort-
licher Leiter der kaiserlichen Regierung ist, nachdem die richtige Ansicht, daß das Substitutions-
recht nach Art. 15 Abs. 2 RV. sich lediglich auf den bundesrätlichen Wirkungskreis (oben
zu 1) beziehe, Geltung gewonnen hatte, durch das Reichsgesetz betr. die Stellvertretung des
Reichskanzlers vom 17. März 1878 geregelt worden. Dieses Gesetz, welches laut § 4 den Art. 15
Abs. 2 RV. nicht berührt, läßt eine Vertretung des Reichskanzlers in seinen sämtlichen außer-
bundesrätlichen Geschäften, also sowohl in der ministeriellen Mitwirkung bei Regierungsakten
des Kaisers (Gegenzeichnung), als in seiner Tätigkeit als Verwaltungschef, mit folgenden Maß-
gaben zu: Voraussetzung der Ernennung eines Stellvertreters ist, daß der Kanzler sie
in Fällen seiner Behinderung (z. B. Krankheit, Abwesenheit, insbesondere aber zeitweilige oder
andauernde Uberlastung mit Geschäften) beim Kaiser selbst beantragt. Ohne einen solchen
Antrag kann ein Stellvertreter nicht ernannt, dem Reichskanzler somit ein Vertreter nie auf-
gedrängt werden. Der Antrag kann sich nur richten: 1. auf Ernennung eines General-
stellvertreters (für den Gesamtumfang des kanzlerischen Wirkungzkreises) oder 2. auf
Einsetzung von Spezialstellvertretern mit sachlich (ressortmäßig) begrenzter Ver-
tretungsmacht, dergestalt, daß (s 2 d. Ges.) „für diejenigen einzelnen Amtszweige, welche sich
in der eigenen und unmittelbaren Verwaltung des Reiches be-
finden, die Vorstände der dem Reichskanzler untergeordneten obersten Reichsbehörden
(die Staatssekretäre, s. unten) mit der Stellvertretung desselben im ganzen Umfang oder in
einzelnen Teilen ihres Geschäftskreises“ zu beauftragen sind. Zum Generalstellvertreter kann
also jeder, zum Spezialstellvertreter dagegen nur der sachlich zuständige Staatssekretär ernannt
werden. Die Ernennung bewirkt bei beiden Kategorien von Vertretern eine volle, nicht
aber eine privative (absorptive) Stellvertretung: Vertretungsmacht und Verant-
wortlichkeit des Vertreters bestehen nur solange und soweit der Vertretene sie bestehen lassen
will. „Dem Reichskanzler ist vorbehalten, jede Amtshandlung auch während der Dauer einer
Stellvertretung selbst vorzunehmen“ (§ 3 d. Ges.). Er wird also durch die Stellvertreter in
keiner Weise depossediert. Er ist und bleibt ihr Vorgesetzter.
3. Der Reichskanzler ist schließlich Chef der Reichsverwaltung und Dienstvorgesetzter der
Reichsbehörden. Nach dem System der Entwürfe der norddeutschen Bundesverfassung, welche
die Funktionen der Bundesgewalt auf Gesetzgebung und Beaussichtigung beschränkten und
eine unmittelbare Bundesverfassung durch eigene Bundesbehörden nicht kannten, hätte es für
diese Stellung an der nötigen Voraussetzung gefehlt: die letztere war erst gegeben, nachdem
der Antrag Bennigsen dem Bundeskanzler die Eigenschaft eines verantwortlichen Bundes-
ministers beigelegt und damit die Entstehung von Bundesämtern unterhalb dieser leitenden
Zentralstelle ermöglicht hatte.
Die Entwicklung der in dem Kanzler ihre Spitze findenden Behördenorganisation des
Reichs setzt ein mit dem Erlaß des Bundespräsidiums vom 12. August 1867, welcher unter dem
Über Anfragen und Interpellationen im Reichstage vgl. Geschäftsordnung des Reichs-
tags §s 31 a ff., 32 ff.
Reichstagsgeschäftsordnung § 33 a: „Bei der Besprechung einer Interpellation können
Anträge gestellt werden, welche die Feststellung verlangen, daß die Behandlung der den Gegen-
stand der Interpellation bildenden Angelegenheit durch den Reichskanzler der Anschauung des
Reichstags entspricht, oder daß sie ihr nicht entspricht.“ Der Reichstag hat also das Recht, dem
Reichskanzler ein Tadels- oder Mißtrauensvotum zu erteilen.
Enzyklopädie der Rechtswissenschaft. 7. der Neubearb. 2. Aufl. Band IV. S