Deutsches Staatsrecht. 117
e) Dieses Regierungsshstem (b) ist dann in den Jahren 1877, 1879 und — nach längerem
Stillstande der reichsländischen Verfassungsentwicklung — 1911 ohne Veränderung der staats-
rechtlichen Grumdlagen derart modifiziert worden, daß die „elsaß-lothringischen Landesangelegen-
heiten“, d. h. diejenigen Angelegenheiten, welche, wenn Elsaß-Lothringen ein selbständiger
Staat des Reichs wäre, zur Zuständigkeit dieses Staates gehören würden, nicht mehr (wie in
der voraufgehenden Periode) durch die gemeingültigen, sonderm durch besondere Organe
des Reichs besorgt werden, welche im Reichslande ihren Sitz haben und, soweit gewählt, aus
Wahlen nur der reichsländischen Bevölkerung hervorgehen. Eine Provinzialregierung des
Reichs für Elsaß-Lothringen und ein reichsländisches Sonderparlament wurden gebildet und
dadurch dem Lande ein gewisses Maß faktischer, wenngleich (da Elsaß-Lothringen auch
jetzt noch nicht zu einem selbständigen Gemeinwesen erhoben wurde) nicht rechtlicher Autono-
mie gewährt.
Die hiermit bezeichnete Periode beginnt mit dem Gesetz betr. die Landesgesetzgebung
von Elsaß-Lothringen vom 2. Mai 1877. Dieses Gesetz schuf eine besondere Legislative für
den Erlaß von „Landesgesetzen“, d. h. solchen Reichsgesetzen, welche nach Geltungsbereich und
Inhalt in die Kompetenz der Landesgesetzgebung von Elsaß-Lothringen fallen würden, wenn
Elsaß-Lothringen ein „Land“ im staatsrechtlichen Sinne, d. h. ein Einzelstaat wäre. Solche
„Landesgesetze“ sollten, woferm man es nicht, was fortdauernd statthaft war (§ 2 des Ges. vom
2. Mai 1877), vorzog, dieselben im Wege der gemeingültigen Reichsgesetzgebung (Art. 5, 17, 2
RV., vgl. unten S. 157 ff.) zustande zu bringen, vom Kaiser mit Zustimmung des Bundesrates
und des Landesausschusses erlassen werden. Dieser Landesausschuß, ursprünglich eine (durch
Kaiserl. Erlaß vom 29. Oktober 1874 geschaffene) beratende Notabelnversammlung, erhielt
durch das Gesetz vom 2. Mai 1877 Stellung und Rechte einer Volksvertretung: er war, wie
der heutige Landtag des Reichslandes (s. unten), ein Sonderparlament des Reichs für Elsaß-
Lothringen („Spezialreichstag“).
Weitere Fortschritte auf dem Wege der Dezentralisation und Autonomie enthielt das
Gesetz betr. die Verfassung und die Verwaltung Elsaß-Lothringens vom 4. Juli 1879. Es setzte
unter Ausschaltung des Reichskanzlers und Aufhebung des diesem unterstellten Reichskanzler-
amtes für Elsaß-Lothringen für die elsaß-lothringischen Landesangelegenheiten (s. oben) einen
besonderen Regierungsorganismus mit dem Amtssitz in Straßburg ein, bestehend aus dem
ummittelbar unter dem Kaiser stehenden Statthalter und, in Unterordnung unter diesen,
dem Ministerium für Elsaß-Lothringen, mit einem Staatssekretär an der
Spitze. Die Rechte des Landesausschusses wurden erweitert und seine Mitgliederzahl auf 58
erhöht (34 Abgeordnete der Bezirkstage, 4 der größten Städte, 20 der Landdkreise).
Endlich haben die beiden Reichsgesetze vom 31. Mai 1911 über die Verfassung Elsaß-Loth-
ringens und über die Wahlen zur Zweiten Kammer des Landtags für Elsaß-Lothringen folgende
Neuerungen gebracht: Das Reichsland erhielt Sitz und Stimme im Bundesrat (vgl. oben S. 90),
ausgeübt durch drei Bevollmächtigte, welche vom Statthalter emannt, instruiert und abberufen
werden. Der Landesausschuß wurde aufgehoben. An seine Stelle trat als parlamentarische
Vertretung des Landes ein Landtag, zusammengesetzt aus zwei Kammern (Erste und
Zweite Kammer). Die Möglichkeit, elsaß-lothringische Landesgesetze im gemeingültigen Wege
der Reichsgesetzgebung zu erlassen, wurde beseitigt; solche Landesgesetze können jetzt nur mehr
vom Kaiser unter Zustimmung des Landtags gegeben werden. Bundesrat und Reichstag
nehmen also an der elsaß-lothringischen Landesgesetzgebung nicht mehr teil. Soweit das Ver-
fassungsrecht des Reichslandes in dem Gesetz über die Verfassung vom 31. Mai 1911 geregelt
ist, kann es nur durch Reichs gesetz (also nur mit Zustimmung von Bundesrat und Reichstag),
im üÜbrigen durch Landesgesetz abgeändert werden. Durch das Verfassungsgesetz geregelt und
damit reichsgesetzlich festgelegt sind insbesondere die Stellung und Rechte des Kaisers und des
Statthalters, die Zusammensetzung der Ersten und, was das Formationsprinzip (allgemeines
Wahlrecht) betrifft, auch der Zweiten Kammer, die Zuständigkeit des Landtags, die Rechts-
verhältmisse der Landtagsmitglieder, der Grundsatz der deutschen Staatssprache. Dagegen ist
z. B. das Wahlrecht zur Zweiten Kammer zwar auch durch Reichsgesetz — das Wahlgesetz vom
31. Mai 1911 — geordnet, diesem Gesetze (gewissermaßen das letzte auf Grund des Vor-
behaltes im § 2 des Gesetzes vom 2. Mai 1877 erlassene Reichsgesetz) jedoch nicht Reichs-