132 G. Anschütz.
des verstorbenen Erstgeborenen, ihn unbeschränkt repräsentierend, dem noch lebenden Zweit—
geborenen vorgehen. —
2. Die außerordentliche Thronfolge. Die bisher erörterte ordentliche
Thronfolge ist eine Thronfolge nach Geblütsrecht: kraft des Umstandes, daß das Blut des primus
parens in ihren Adem fließt, sukzedieren die Agnaten und in dem gezeigten partikularrechtlichen
Umfange auch noch die Kognaten des regierenden Hauses. Dahinter steht die Möglichkeit einer
außerordentlichen Thronfolge, die Thronfolge aus andem Gründen als denen des Geblüts-
rechts. Das gegenwärtige Recht kennt zwei hierher gehörige Sukzessionstitel: Gesetz und
Vertrag.
a) Gesetz. — Angesichts des Aussterbens der regierenden Dynastie bzw. des Nichtvor-
handenseins sukzessionsberechtigter Kognaten wird eine neue Dynastie durch Spezialgesetz auf
den Thron des Landes berufen. Dieser Weg ist überall zulässig, nicht etwa nur in den Ländern,
deren Verfassungen darauf verweisen (ausdrücklicher Hinweis im oldenburg. Staatsgrundgesetz
vom 22. November 1852, Art. 18, stillschweigender in der preuß. Verf.-Urkunde, Art. 57, val.
oben S. 130 Anm. 1). Ein solches Gesetz braucht nicht notwendig in den Formen der Verfassungs-
änderung zu ergehen, z. B. nicht in Preußen, Art. 57 a. a. O. Ist es ergangen, so entscheidet
es über die von ihm erledigte Sukzessionsfrage, falls sie streitig war, souverän und inappellabel,
— vorbehaltlich jedoch, selbstredend, der bestehenden völkerrechtlichen Pflichten des
betreffenden Staates, deren sich dieser ja niemals einseitig, auch nicht durch Handhabung seiner
gesetzgebenden Gewalt, entledigen kann.
b) Vertrag. — Soweit sie nicht durch ein ad hoc erlassenes Thronfolgegesetz (vor-
stehend zu a) oder durch sonstige Gesetze, insbesondere die Verfassung des Landes aufgehoben
sind, können alte Erbverbrüderungen, d. h. Verträge, in denen zwei oder mehrere
Dynastien sich wechselseitig das Recht auf Thronfolge in ihre Länder für den Fall ihres Aus-
sterbens zusichern, auch heute noch als Titel außerordentlicher Thronfolge Geltung behaupten
(ogl. bayer. Verf.-Urk. II #5, sächs. Verf.-Urk. & 7; nach beiden Verfassungen gehen die Erb-
verbrüderten den Kognaten des Hauses vor). Unter der Herrschaft der konstitutionellen Ver-
fassungen können neue Vereinbarungen dieser Art nicht mehr von Dynastie zu Dynastie (es
sei denn, daß die Verfassung eine dahingehende Ermächtigung ausdrücklich erteilt, vgl. bayer.
Verf.-Urk. 2, § 5, oder das Thronfolgerecht überhaupt noch Gegenstand freier haus gesetz-
licher Regelung ist), sonderm, als Disposition über die Staatsordnung, nur von Staat zu
Staat — in Form eines von den gesetzgebenden Faktoren zu genehmigenden Staatsvertrages
(val. unten & 45) — abgeschlossen werden.
§ 29. Der Thronverzicht .
Thronverzicht (Abdankung, Abdikation, Resignation, Thronentsagung) ist die ein-
seitige, freiwillige Erklärung des Monarchen, welche das Erlöschen seiner Monarchenstellung
bezweckt und bewirkt. Im weiteren Sinne bedeutet „Thronverzicht“ auch den vor Anfall der
Krone von einem Thronfolgeberechtigten abgegebenen Verzicht auf sein Thronfolgerecht
(Thronanwartschaftsverzicht). Die Institution des Thronverzichtes ist in keinem
deutschen Verfassungs= oder sonstigen Gesetz geregelt, steht jedoch in unangefochtener Geltung:
sie gründet sich auf Gewohnheitsrecht.
Der Thronverzicht ist eine einseitige, d. h. durch ihre Kundgabe und kraft derselben
rechtswirksame, nicht genehmigungsbedürftige (bestritten, ob empfangsbedürftige; vgl. Kor-
mann 99) Willenserklärung. Er ist eine Privat willenserklärung: der auf den Thron ver-
zichtende Monarch redet und handelt in diesem Augenblick als Individuum, nicht als Staats-
organ. Der Verzicht ist mithin kein Regierungsakt, insbesondere nicht im Sinne
1 Literatur: Meyer-Anschütz § 91; Rehm, Modernes Fürstenrecht 88 47
bis 60, 52; v. Frisch, Der Thronverzicht (1906); AKbraham,, Der Thronverzicht nach deutschem
Staatsrecht (1906); Kormann, Die winisterielle Gegenzeichnung beim sogenannten Thron-
verzicht, Grünhuts Ztschr. f. Privat= und öffentl. Recht 38 91 ff. (1911);) Schoenborn,
Studien zur Lehre vom Verzicht im öffentl. Recht (1908).