Deutsches Staatsrecht. 11
Das Wesen „Staat“ ist im Sinne Rechtens eine Korporation, eine Gesamt-
persönlichkeit auf territorialer Grundlage (Persönlichkeits-
theorie).
Die Persönlichkeitstheorie ist von allen Staatstheorien die heute am meisten verbreitete.
Diese Verbreitung entspricht ihrem inneren Wert. Denn allein die Persönlichkeitstheorie gibt
mit rein juristischen Mitteln eine widerspruchslose, dem modernen politischen Denken sich an-
passende Erklärung des Staatsbegriffs.
Eine im Altertum schon fließende, im Mittelalter aber fast völlig verschüttete Quelle
tiefsten staatswissenschaftlichen Erkennens, ist die Lehre vom Staate als Persönlichkeit durch
die naturrechtliche Theorie des 17. und 18. Jahrhunderts zu neuem Leben erweckt worden
(Althusius, Grotius, Pufendorf, Kantt)y). Zur vollen Blüte brachte sie aber
erst die deutsche Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts: Albrecht, v. Gerber, Gierke,
Jellinek, Laband, Georg Meyer. Von den historisch-politischen Denkern und
Schriftstellermn, die auf eigenem, selbständig gebahntem Wege gleichfalls zu dieser Staats-
auffassung gelangt sind, sei hier nur einer genannt: Heinrich v. Treitschke: Politik 1 25 ff.
Wer nach einer Rechtfertigung der Persönlichkeitslehre sich umschaut, der möge etwa
folgenden Erwägungen Raum geben. Die Persönlichkeitslehre spricht zu denen und will denen
genügen, welche unter Zurücklassung aller patrimonialen, patriarchalen, theokratischen und
anderen Staatsanschauungen einer hinter uns liegenden Zeit nachstehende Momente als grund-
sätzlich wichtig für die Erkenntnis und Erklärung des Staates ansehen: 1. die den Wechsel der
herrschenden und beherrschten Menschen überdauernde Einheit des Staates; 2. die Eigenschaft
des Staates als einer machtbegabten, willens-= und handlungsfähigen Einheit, welche als solche
Träger von Rechten und Pflichten ist; 3. die Zugehörigkeit des Staates zur Gattung der aus einer
Mehrheit von Menschen zusammengefügten sozialen Einheiten (Verbände), anders aus-
gedrückt: die Natur des Staates als eines Gemeinwesens, des Staatswillens als Ge-
meinwillens, der Staatsgewalt als Verbandsgewalt; 4. die Einbeziehung des oder der
„-herrschenden“, d. h. die Verbandsgewalt ausübenden Menschen in den Staatsverband, derart,
daß der Herrscher nicht außer und über den Verband gestellt, sondern, als sein „Erster
Diener“, in ihn hineingezogen wird, daß der König, indem er regiert, nicht sein eigenes,
sondern fremdes, d. h. eben des Staates Recht wahrnimmt.
Diese vier Punkte sollen die Hauptrichtungen bezeichnen, nach denen die juristische Aus-
bildung und Durchbildung des Staatsbegriffes zu erfolgen hat; es muß behauptet werden,
daß nur die Persönlichkeitstheorie die hierfür geeignete Operationsbasis darbietet. Die anderen
Staatstheorien führen — worüber die Probe zu machen dem Nachdenken des Lesers über-
lassen bleiben muß — nicht zum Ziel. Dies gilt insbesondere von der Herrscher- und von der
Verhältnistheorie, welche sich über das wesentlichste Moment des modernen Staatsbegriffes,
über die korporative, die Verbandsnatur des Staates hinwegsetzen und die
öffentlichen Gewalten als persönliche Rechte des Herrschers anstatt als Funktionen des Ge-
meinwesens erscheinen lassen.
Wir fassen das Ergebnis der letzten Erörterungen zusammen, indem wir die oben S. 7
angegebene, noch unbestimmt gehaltene und für alle Staatstheorien Raum bietende Grund-
definition des Staatsbegriffes auf die Persönlichkeitstheorie einstellen und letztere damit re-
zipieren:
Der Staat ist die Vereinigung aller Menschen eines be-
stimmten Gebietes zu einer mit der obersten Gewalt über Land
und Leute bekleideten Gesamtpersönlichkeit.
1 Vgl. besonders Kants Satz in der Schrift „Zum ewigen Frieden“ (Werke, herausgeg. von
Hartenstein, 6 409): „Ein Staat ist nicht, wie der Boden, auf dem er seinen Sitz hat, eine Habe
(patrimonium). Er ist eine Gesellschaft von Menschen, über die niemand anders als er selbst zu
gebieten und zu disponieren hat.“ Der Staat ist also nach Kant eine dispositionsfähige Gesell-
schaft, mit anderen Worten: eine juristische Person. Der Ausspruch läßt klar erkennen, wie die
Persönlichkeitstheorie dogmatisch und historisch m Gegensatz steht zu der Auffassung des Staates als
„Habe“, zu der patrimonialen Staatsauffassung. Diese Auffassung überwunden zu haben,
ist das unvergängliche Verdienst der in Kant gipfelnden naturrechtlichen Staatslehre.