Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

Deutsches Staatsrecht. 153 
Der Verfassungsstaat will vor allem ein Rechts staat sein: ein Staat, dessen Sein und 
Tätigkeit ganz im Zeichen des Rechts steht, dessen oberster Wille nicht Rex, sondern Lex heißt; 
ein Gemeinwesen, wo die Beziehungen der einzelnen nicht nur unter sich, sondern vor allem zur 
Staatsgewalt durch Rechtssätze bestimmt sind, wo es also auch beim Regieren und Regiert- 
werden nach Recht und Gesetz und nicht nach dem Gutdünken der regierenden Personen zugeht. 
— Diese Ideen fordem gebieterisch die organisatorische Abtrennung der rechtssetzenden Staats- 
funktion von Regierung und Justiz, denn es wäre ein Widerspruch in sich, denjenigen, welche be- 
rufen sind, das Gesetz zu erfüllen, die Vollmacht zu belassen, es aufzuheben. Die Rechtsordnung 
soll „auch der Krone gegenüber zur Unverbrüchlichkeit gebracht werden“ (v. Martitz), das 
Gesetz als eine Macht erscheinen, welche dem Willen der beherrschten wie der herrschenden Personen 
gleichermaßen übergeordnet ist; dies läßt sich aber nicht anders erreichen als dadurch, daß man 
1. die Bildung des rechtssetzenden Staatswillens einem besonderen Staatsorgan, der 
„Legislative“, überträgt und 2. dieser Legislative eine Einrichtung gibt, welche den Willen des 
Trägers der Regierungsgewalt (Monarch im Einzelstaat, Bundesrat im Reich) hier nicht einseitig 
entscheiden läßt, sondern diesen Willen durch einen anderen, unabhängigen Organwillen beschränkt. 
Die handgreiflich nächstliegende Formation der Legislative ist die eines verfassungsmäßig geord- 
neten Zusammenwirkens des Trägers der Regierungsgewalt und der 
Volksvertretun gals materiell gleichwertiger Faktoren. Und ein Blick auf die Verfassungs- 
texte (ugl. als Beispiel RV. Art. 5: „Die Reichsgesetzgebung wird ausgeübt durch den Bundes- 
rat und den Reichstag. Die Ubereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse beider Versammlungen 
ist zu einem Reichsgesetze erforderlich und ausreichend“; preuß. VlU. Art. 62: „Die gesetzgebende 
Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König und durch zwei Kammern ausgeübt") lehrt, daß 
der Aufbau der Legislative in Reich und Land heute tatsächlich jenen konstitutionellen Forderungen 
entspricht. 
Die von der Legislative ausgehenden Staatswillensakte, nur sie und sie alle, heißen „Gesetze“, 
d. h. Gesetzeimformellen Sinne. Sie heißen so allein um ihrer Form willen, im Hin- 
blick auf den Ursprung und Weg des Zustandekommens, unangesehen ihres Inhalts, der aus materi- 
ellen Gesetzen, Rechtssätzen bestehen kann, in der Regel bestehen wird, aber nicht bestehen muß 
(s. unten). Die Form des Gesetzes ist umn vertretbar : sie kann, soweit sie verfassungsmäßig 
notwendig ist, durch keine andere ersetzt werden, außer mit Ermächtigung der Legislative selbst. 
Sie bewirkt den Vorrang der in ihrem Gewande erscheinenden Staatswillensäußerungen 
vor allen anderen: das Gesetz im formellen Sinne ist gegenüber jedem anderen Organ= oder Privat- 
Einzel- oder Korporationswillen im Staate unbedingt souverän; es bindet jeden, den es angeht. 
Der in Gesetzesform erscheinende Staatswille ist endlich umnverbrüchlich für jedermann 
außer für den Gesetzgeber selbst („sormelle Gesetzeskraft“" i. e. S.), das heißt, seine 
Bestimmungen können nur auf demselben Wege, auf dem sie entstanden sind, also nur durch 
ein neues formelles Gesetz, abgeändert, aufgehoben, authentisch ausgelegt oder durch Aus- 
nahmen (Dispensationen, Privilegien) durchbrochen werden. 
An die soeben besprochene Frag-, was ein formelles Gesetz ist, reiht sich nun die andere, ##ühr 
wichtige und weittragende, wann die Anwendung in dieser Form der Staatswillensäußerung 
geboten ist, anders ausgedrückt: welche Gegenstände durch die Verfassung der Legislative vor- 
behalten und welche anderen dadurch, daß dies nicht geschehen ist, der Verordnungsbefugnis des 
Trägers der Regierungsgewalt (Monarch im Einzelstaat, Bundesrat im Reich; vgl. oben S. 124, 
9) belassen sind. Welche Verhältnisse müssen durch Gesetz i. f. S., welche dürfen durch Verord- 
nung (s. unten §& 42) geregelt werden? Diese Frage ist für das Landes= wie für das Reichsstaatsrecht 
gleichmäßig dahin zu beantworten, daß die Fähigkeit, Gesetze im materiellen Sinne, Rechtssätze 
zu erlassen, die rechtssetzende Gewalt, der Legislative ausschließlichund vollfbertragen 
ist. In das Vorbehaltsgebiet der Legislative fällt nicht nur der Erlaß gewisser Rechtssätze, sondern 
aller, so daß andere Staatsorgane außer dem Gesetzgeber zu der Fähigkeit, einzelne Angelegen- 
heiten oder Gegenständerechtssatzmäßig (durch Abgrenzung der Willenssphäre des Staates 
und der Individuen oder der Individuen untereinander) zu regulieren, nur dadurch gelangen 
können, daß der Gesetzgeber sie hierzu ermächtigt oder anweist (Rechtsverordnungen nur intra 
legem; s. unten § 42). 
Diese Sätze enthalten nicht etwa. nur Theorien oder bloße politische Forderungen, sondern
	        
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