Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

158 G. Anschütz. 
Dies „ausreichend“ will in erster Linie die staatenbündische Vorstellung abschneiden, als bedürfte 
es zum Zustandebringen eines Reichsgesetzes noch einer irgendwie gearteten Tätigkeit der Landes- 
staatsgewalten. Die bundesstaatliche Unmittelbarkeit der Reichsgesetzgebung (s. oben S. 67, unten 
#§s 41) wollte scharf betont, nicht aber gesagt sein, daß das Reichsgesetz schon dann in Kraft und 
Geltung tritt, wenn über seinen Inhalt Einigkeit zwischen Bundesrat und Reichstag hergestellt sst. 
Zum Abschluf des legislativen Prozesses bedarf es vielmehr erst noch der Sanktion des Gesetzes 
durch den Bundesrat (RV. Art. 7 Abs. 1 Ziff. 1), der Ausfertigung und der Verkün- 
digung (Art. 17 und 2) durch den Kaiser. Die Faktoren der Reichsgesetzgebung sind also 
der Bundesrat und der Reichstag, denen, mit der mehr formalen Kompetenz eines Ausfertigungs- 
und Verkündigungsorgans, der Kaiser hinzutritt. Die Gliederung des Gesetzgebungsverfahrens 
ist die gleiche wie bei der Landesgesetzgebung, nur daß der Akt der Ausfertigung, welche 
dort mit der Sanktion in eins zusammenfällt, hier durch Ubertragung an ein besonderes Organ, den 
Kaiser, individualisiert ist und selbständige Gestaltung gewinnt. 
Im einzelnen ist folgendes zu bemerken. Die Initiative steht sowohl dem Bundes- 
rate als dem Reichstage zu, letzterem namentlich auch (nach der richtigen Auslegung des Art. 23 
RV., vgl. v. Seydel, Komm. S. 202) in bezug auf Verfassungsänderungen, ferner — nach 
einem in der Wissenschaft zuweilen bestrittenen, in der Praxis aber anerkannten Gewohnheits- 
rechtssatz — den Kaiser, diesem jedoch nur dem Bundesrate, nicht jedoch (wegen RV. Art. 7 Nr. 1 
und Art. 16) dem Reichstage gegenüber zu. Die Feststellung des Gesetzesinhalts 
erfolgt durch übereinstimmenden Mehrheitsbeschluß von Bundesrat und Reichstag; an den Ver- 
handlungen des Reichstags beteiligt sich der Bundesrat durch Vertreter, die von ihm (nicht vom 
Kaiser) aus seiner Mitte delegiert oder anderweit ernannt werden (Art. 16, vgl. auch Art. 9 Satz 1 
RV.). Im weiteren Fortgange des legislativen Verfahrens gelangt der vom Reichstage genehmigte 
Gesetzentwurf zur Sanktion an den Bundesrat (N. Art. 7 Ziff. 1), welch letzterer hier, 
namentlich in bezug auf Verweigerung, Aufschub und Zurücknahme der Sanktion, genau ebenso 
gestellt ist wie die Krone bei der Landesgesetzgebung (abgesehen von dem Mangel einer ministeri- 
ellen Verantwortlichkeit, s. oben S. 98, 126). Die Sanktionsbeschlüsse des Bundesrats können 
in der Regel mit einfacher Stimmenmehrheit (Art. 7 Abs. 3 RV. ), bei Verfassungsänderungen jedoch 
nicht gegen 14 widersprechende Stimmen (RV. Art. 78 Abs. 1) und in den Fällen RV. Art. 5 Abf. 2, 
78, Abs. 2 nicht gegen die Stimme Preußens bezw. der reservatberechtigten Staaten (oben S.77, 
100) gefaßt werden. Das sanktionierte Gesetz ist demnächst vom Kaiser unter Verantwortlich- 
keit des Reichskanzlers urkundlich auszufertigen: Art. 17 RV. Das Wesen der Ausfer- 
tigung ist hier kein anderes wie bei der Landesgesetzgebung (s. vorige Seite). Ausfertigen heißt 
beurkunden. Was beurkundet werden soll, ist die Legalität des Gesetzgebungsverfahrens und die 
Echtheit des Gesetzestext, insbesondere die Ubereinstimmung des vom Bundesrate sanktionierten 
Gesetzesinhalts mit den Beschlüssen des Reichstags. Diese Punkte sind vor der Ausfertigung zu 
prüfen. Finden sich Anstände, so ist die Ausfertigung bis zu deren Behebung! zu ver- 
weigern, denn es versteht sich, daß die Verfassung dem Kaiser eine Falschbeurkundung nicht zu- 
muten will. Andernfalls ist die Ausfertigung zu erteilen und der Reichskanzler haftet verantwort- 
lich dafür, daß diese kaiserliche Pflicht erfüllt wird. Ein Veto gegen die Beschlüsse von Bundesrat 
und Reichstag hat dem Kaiser durch Art. 17 RV. nicht beigelegt werden wollen (vgl. zur Bekräf- 
tigung dieser in der Wissenschaft herrschenden Meinung Bismarck, G. und E. II, 306). Die in der 
kaiserlichen Ausfertigung liegende Bescheinigung der Echtheit und Gültigkeit des Gesetzes kann 
von keinem, den das Gesetz angeht — Gerichte, Verwaltungsbehörden, Untertanen — einer UÜber- 
prüfung und Beanstandung unterzogen werden. Unberührt aber bleibt das Recht des Bundes- 
rates und Reichstags, die konstitutionelle Verantwortlichkeit des Kanzlers aus Anlaß einer rechts- 
widrigen Gesetzesausfertigung geltend zu machen. — In der Ausfertigung liegt zugleich der Befehl 
zur Verkündigungdes Reichsgesetzes. Letztere geschieht gemäß Art. 2 RV. „von Reichs- 
wegen“" — womit wiederum die unmittelbare Wirkung der Befehle des Reichsgesetzgebers 
s. oben S. 67 und 158 hervorgehoben ist — vermittels eines Reichsgesetzblattes. Das 
Reichsgesetz tritt in Ermangelung anderweiter Festsetzung mit dem 14. Tage nach Ablauf des 
Tages, an welchem das betreffende Stück des Rel. ausgegeben wurde, in Kraft. — 
1 Darüber, ob Mängel, welche der Ausfertigung entgegenstehen, vorhanden sind, entscheide 
der Kaiser unter Verantwortlichkeit des Reichskanzlers frei und selbständig. 
 
	        
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