Deutsches Staatsrecht. 161
gesetze zu Reichsgesetzen, welche die durch das Reichsgesetz beseitigten landesrechtlichen Normen
in der Absicht vollständiger Aufzählung einzeln bezeichnen. Eine solche Aufzählung würde der
Pflicht des Richters, selbständig die Landesgesetze auf etwaige Widersprüche mit den Reichsgesetzen
zu prüfen und im Falle des Widerspruchs dem Landesrecht die Anwendung zu versagen, keinen
Abbruch tun können. (Noch viel weniger könnte das hiermit bezeichnete Prüfungsrecht landes-
gesetzlich allgemeinbeschränkt werden; Bestimmungen wie Art. 106 Abs. 2 der preuß. Verfass.=
Urkunde sind hier nicht anwendbar.)
Reichsgesetzwidrige Landesgesetze für nichtig zu erklärem, ist ebenso Recht des Reichs wie
„Bundespflicht“ Art. 19 RV.) des betreffenden Einzelstaates. Bei Meinungsverschiedenheiten
zwischen Reichs- und Landesregierung über den Fortbestand oder die Zulässigkeit einer landes-
rechtlichen Bestimmung tritt die im Art. 7 Ziff. 3 RV. vorgesehene Beschlußfassung des Bundes-
rates ein (s. hierüber oben § 12).
Nur dem Namen nach „Landesgesetze“, in Wahrheit aber und der Sache nach Reichs gesetze
sind die sog. Landesgesetze für Elsaß-Lothringen (oben 117, 118), d. h. die
auf dem oben geschilderten Wege erlassenen Gesetze, welche nur für das Reichsland Geltung
haben und sich auf Gegenstände beziehen, deren Regelung im übrigen Reichsgebiete der Landes-
gesetzgebung zusteht. Daß es sich bei diesen Gesetzen nur um eine besondere Spielart der
Reichsgesetze handelt und handeln kann, folgt aus der — oben § 24 erörterten — rechtlichen
Natur des Reichslandes: Elsaß-Lothringen ist kein „Land“ im staatsrechtlichen Sinne, d. h. kein
Einzelstaat des Reichs, sondern nur eine Provinz des letzteren, in welcher eine von der Reichs-
gewalt verschiedene Landesstaatsgewalt nicht besteht, also auch eine Landesgesetzgebung in diesem
Sinne nicht bestehen kann.
8§ 42. Das Verordnungsrecht 1.
Unter Verordnungen versteht man im konstitutionellen Staate allgemeine
Vorschriften, welche von dem Träger oder den Organen der voll-
ziehenden Gewalt ausgehen. Zwei Momente kennzeichnen den Begriff: der Ur-
sprung aus dem Willen der vollziehenden Gewalt (Verwaltung) und das Merkmal der Allgemein-
heit (abstrakten Fassung), sie heben ihn gegensätzlich ab einerseits von dem Begriffe des Gesetzes
i. f. S. (Akt der Legislative, s. oben S. 152), anderseits von dem der Verfügung ddes lediglich
den konkreten Einzelfall erfassenden und ordnenden Verwaltungsakts.
Die Verordnung ist eine im Verwaltungswege ergehende allgemeine Anordnung der Staats-
gewalt, die Kompetenz zum Erlaß solcher Anordnungen, — das Verordnungsrecht im subjettiven
Sinne oder die Verordnungsgewalt sonach formell eine Funktion der Verwaltung
(„vollziehenden Gewalt"). Daraus folgt, daß die rechtlichen Schranken der Verordnungsgewalt
grundsätzlich zusammenfallen müssen mit den Grenzen der vollziehenden Gewalt überhaupt.
Die Verordnungsgewalt ist gegenständlich nicht enger begrenzt, reicht aber auch nicht weiter als
der allgemeine Wirkungskreis der Verwaltung: alles das, aber auch nur das, was Träger und
Organe der vollziehenden Gewalt (Staatsoberhaupt und Behörden) im Verwaltungswege
bewirken dürfen, können sie zum Gegenstand einer Verordnung machen. Denn „wer das Recht
der Verfügung hat, besitzt auch das Recht, diese Verfügungen abstrakt und allgemein zu fassen; mit
anderen Worten, wer das Recht der Einzelverfügungen hat, darf auch Verordnungen erlassen“
(Fellinek G. und V. 375), — mit der selbstverständlichen Maßgabe, daß dieses „Dürfen“, diese
generalisierende Tätigkeit nicht dazu benutzt werden kann, um die der Verwaltung als solcher
gesetzten Rechtsschranken zu überspringen, insbesondere die Untertanen dem Gesetze zuwider
(contra legem) oder ohne gesetzliche Grundlage (ultra legem) mit Verpflichtungen zu belasten.
1 Laband 2 85 ff., 165 ff., 182 ff.; Meyer-Anschütz 5§ 159—161, 165; Jellinek,
Gesetz und Verordn. S. 56 ff., 84 ff., 122 ff. 366 ff.; Haenel, Staatsr. 1 271 ff. und Studien
2 177 ff.; v. Seydel, Bayer. Staatsr. 2 327 und Komm. z. RV. S. 138 ff.; Otto Mayer,
Berwaltungsrecht 1 67 ff.; Rosin, Das Polizeiverordnungsrecht in Preußen (2. Aufl. 1895);
Arndt, Das Verordnungsrecht des Deutschen Reichs auf der Grundlage des preußischen (1884),
und Das selbständige Verordnungsrecht (1902); Bornhak, preuß. Staatsr. (2. Aufl., 1 461 ff.,
538 ff.; Zorn, Reichsstaatsr. 1 401 ff., 481 ff. Anschütz,, Begriff der gesetzgebenden Gewalt
(2. Aufl. 1901); das. Note 5, 6, 8, 22—55 weitere Literaturangaben.
Enzytlopädie der Nechtswissenschaft. 7. der Neubearb. 2. Aufl. Band IV. 11