Deutsches Staatsrecht. 13
gewonnen haben, läßt sich kein vollständig legitimer Besitztitel nachweisen, und in unserem eigenen
staatlichen Leben können wir der Benutzung revolutionärer Unterlagen nicht entgehen .“
Mit alledem ist aber nicht gesagt, daß ein Staat nicht im geordneten Wege Rechtens
entstehen, daß niemals die Staatsgründung als ein rechtlich faßbarer und konstruierbarer Vor-
gang erscheinen könne. Das Gegenteil lehrt der Verlauf mehrerer älterer und neuerer
Staatsschöpfungen, lehrt vor allem das glänzendste und uns nächstliegende Beispiel: die Ent-
stehungsgeschichte des Deutschen Reiches. Die Reichsgründung ist — worüber noch zu reden
sein wird (s. unten § 9) — historisch-politisch betrachtet eine Tat des preußischen Staates, voll-
zogen unter dem Beistand aller deutschen Regierungen, unter der Zustimmung der über-
wiegenden Mehrheit des deutschen Volkes, — rechtlich gewürdigt die Schöpfung eines neuen
Staates durch Verein barung bestehender Staaten. Es ist dies eine Rechts-
form der Staatengründung, welche in zwei verschiedenen Typen vorkommt: als Zusammen-
schluß einer Mehrheit von Staaten zu einem Gesamt- (Bundes-) Staat vermöge Vereinbarung
unter sich (so: Gründung des Nordd. Bundes, Erweiterung desselben zum Reiche, Gründung
der heutigen schweizerischen Eidgenossenschaft, der nordamerikanischen Union, der Republik
von Zentralamerika) — und als Begründung eines neuen Staates durch konstitutiven Gesamt-
akt dritter Staaten (Bulgarien, Kongostaat; siehe Völkerrecht). Solche staatsgründenden Ver-
einbarungen haben natürlich nichts zu tun mit der naturrechtlichen Fiktion des Staats- oder
Gesellschaftsvertrages, sind sie doch zwischen bestehenden Staaten, nicht, wie Locke,
Rousseau und ihre Vorgänger den „Staatsvertrag“ sich dachten, zwischen den atomisierten
Individuen einer vorstaatlichen Gesellschaft abgeschlossen worden. Die modernen staats-
gründenden Vereinbarungen sind einigermaßen analog den Verträgen zwischen Privatpersonen,
durch welche juristische Personen des Privatrechts geschaffen werden. Wie es dort die inner-
staatliche Rechtsordnung ist, welche an die übereinstimmende Willenserklärung als deren recht-
liche Wirkung die Entstehung der juristischen Person knüpft, so ist es in dem hier erörterten
Falle die nicht über staatliche, aber zwischen staatliche Ordnung des Völkerrechts,
welche die Möglichkeit der Kreation neuer Mitglieder der Staatengesellschaft durch Verein-
barung bestehender Staaten vorsieht und anerkennt (Gaenel, Deutsches Staatsr. 1 36,
Meyer-Anschütz S. 180; a. M. Jellinek, Allg. Staatsl., S. 266, 755 ff.).
Wie die Entstehung, so kann auch der Untergang des Staates ein rein faktisches, rechtlich
nicht meßbares Ereignis, er kann aber auch ein Rechtsakt sein. Die Auflösung des alten Deutschen
Reiches wird niemand juristisch „konstruieren“ wollen, ebenso die Zerstörung des Königreichs
Polen durch die bekannten „Teilungen“. Für viele vorgekommene Fälle des Untergangs be-
stehender Staaten liefert das Völkerrecht die Rechtsformel in Gestalt des Begriffs der Er-
oberung (cLbellatio). Auf diesem Wege haben z. B. die im Jahre 1866 mit Preußen ver-
einigten deutschen Staaten ihr Dasein eingebüßt, verschwanden die mittel- und süditalienischen
Staaten von der Landkarte, dem italienischen Einheitsstaate den Boden bereitend, in welchem
andererseits das Königreich Sardinien durch selbstgewollte, freiwillige Preisgabe seiner staat-
lichen Individualität aufging. Freiwillig, und zwar durch rechtsförmlichen Verzicht auf ihr
Dasein und Eintritt in den preußischen Staat, haben auch die beiden Fürstentümer Hohen-
zollern (Vertrag vom 7. Dezember 1849, preußisches Gesetz vom 12. März 1850) und das
Herzogtum Lauenburg (preuß. Ges. vom 23. Juni 1876) ihr Ende als selbständige Staats-
wesen erreicht.
§ 2. Einheitsstaat. Staatenverbindungen. Zusammengesetzter Staat.
Die allgemeinen Grundbegriffe des Staatsrechts sind, soweit sie nicht auf reiner Spekula-
tion, sondem auf forschender und vergleichender Betrachtung der realen Staatenwelt be-
ruhen, dem Einheitsstaate abgesehen und von ihm abgezogen worden. Dies hängt
nicht allein damit zusammen, daß man von jeher im Einheitsstaate den einfachsten und Normal-
typus des Staates erblickte und noch zu erblicken hat, sondern vor allem damit, daß die theoretische
Ausbildung jener Grundbegriffe sich bereits zu einer Zeit vollzog, welche andere als Einheits-
staaten noch gar nicht oder kaum kannte und von dem Typus des zusammengesetzten Staates,
insbesondere des Bundesstaates, wie er in Nordamerika 1778—1787 ausgebildet, in die euro-