166 G. Anschütz.
haltung der Rechtsordnung gerichtete Tätigkeit; ihr Beruf ist es, unklares Recht zu klären, bedrohtes
zu schirmen, verletztes wiederherzustellen und zu sühnen, überall ohne begriffliche Einschränkung
auf den Rahmen des Schutzes subjektiver Rechte: auch wo solche nicht in Frage kommen,
wo es sich lediglich um die Wahrung objektiven Rechts, den Schutz der Rechtsordnung als
solcher handelt, kann die Rechtspflege rein „dans l'intérẽt de la loi“ tätig werden (man denke
an die Jurisdiktion in Verfassungsstreitigkeiten, Entscheidung von Kompetenzkonflikten, an die
Funktionen der Staatsanwaltschaft im gerichtlichen Verfahren). Demgegenüber ist „Justiz“
eine formelle Kategorie: Zuständigkeit und Wirkungskreis desjenigen Organismus, dem die
Rechtspflege vornehmlich und spezisisch, wenngleich nicht ausschließlich übertragen ist: der
ordentlichen Gerichte. Wie bei dem Verhältnis der analogen Begriffe auf dem Gebiete
der Gesetzgebung, so entsteht auch hier, wenn man den materiellen und den formellen Begriff,
wenn man „Rechtspflege“ und „Justiz“ in Bezichung setzt, das Bild zweier sich schneidenden
Kreise (loben S. 155); es gibt nicht nur Akte, welche beiden Kreisen angehören, materiell Rechts-
pflege, formell Justiz sind, sondern auch nolche, die inhaltlich Rechtspflege darstellen, aber nicht
im Justiz(ordentlichen Rechts-)wege ergehen (z. B. Entscheidungen des Bundesrats bzw. der Reichs-
legislative auf Grund von RV. Art. 76), und schließlich Justizakte, welche materiell etwas anderes
enthalten als Außerungen der Rechtspflege (z. B. Justizverwaltungsakte).
Die Justiz teilt mit der dritten staatlichen Grundfunktion, der Verwaltung, in gemeinsamer
Unterscheidung von der ersten, der Gesetzgebung, die Eigenschaft der rechtlichen Gebunden-
heit (s. oben S. 28, 29, unten §44), und es gilt das hieraus sich ergebende Merkmal der Unterord-
nung unter die gesetzgebende Gewalt für die Justiz sogar in noch höherem Grade als für die Ver-
waltung, sofern die Verwirklichung des rechtssetzenden Willens im Einzelfalle, die Findung des
Rechts, der einzige Zweck der Justiz ist, während für die Verwaltung das Gesetz nicht so sehr Zweck
als Schranke bedeutet, eine Schranke, innerhalb deren die verwaltenden Staatsorgane in
oft weit bemessenem Spielraume dem Gemeinwohl zweckmäßig dienen, Nutzen schaffen, Schaden
hindern sollen. Die Justiz ist also, und sie besonders, der Gesetzgebung nicht neben-, sondern unter-
geordnet (GVG. F 1). Die Struktur der Gewaltenteilung, wie sic in Deutschland durchgeführt ist,
beruht nicht auf dem Gedanken der Gleichberechtigung und Ebenbürtigkeit der richterlichen mit der
gesetzgebenden Gewalt, derart, daß beide einer höheren, der verfassunggebenden, von
besonderen Organen auszuübenden Gewalt gleicherweise untergeordnet sind (so nach dem Staats-
recht der Vereinigten Staaten von Amerika). Die Verfassung ist bei uns weder im Reich noch in
den Einzelstaaten eine Instanz, welche über dem Gesetzgeber so hoch steht wie über dem Richter,
welcher der Richter daher mehr gehorchen müßte als dem einfachen Gesetz, deren Normen für ihn
einen Maßstab bedeuteten, nach dem er die Legalität, die Gültigkeit des Gesetzes zu prüfen hätte.
Verfassungs= und einfaches Gesetz sind bei uns vielmehr Außerungen einer und derselben, der
gesetzgebenden Gewalt, welche der Justiz schlechthin übergeordnet, deren Wille für den Richter
unbedingt verbindlich ist. Die Verfassung ist für den Richter nicht mehr und nichts anderes als ein
einfaches, formelles Gesetz. Der Richter hat demnach — dies ist sein Grundverhältnis zur Legis-
lative — das Gesetz nicht auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, sondern es einfach anzuwenden.
Widerspricht das später als die Verfassung erlassene Gesetz der Verfassung, so hat er es trotzdem
anzuwenden, als die lex posterior, welche der lex prior vorgeht. Zu fragen und zu prüfen hat
er freilich, ob das, was ihm mit dem Anspruch, Gesetz für ihn zu sein, entgegentritt, wirklich Gesetz,
d. h. im formellen Gesetzgebungswege erzeugter und erklärter Staatswille ist. Diese Frage aber,
die Authentizität des Gesetzes, ist schon entschieden und bejaht durch die Tatsache der
formell vorschriftsmäßigen Publikation der ausgefertigten Gesetzesurkunde. Ausfertigung und
Verkündung des Gesetzes schaffen, wie oben S. 157, 158 dargelegt, den gesetzanwendenden
Stellen, also auch den Gerichten gegenüber (nicht aber im Verhältnis der gesetzgebenden Organe,
Regierung und Volksvertretung, unter sich !) eine praesumtio juris et de jure für die Gültigkeit,
insbesondere für die formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. Daß mit dem
solchergestalt zu verneinenden richterlichen Prüfungsrecht gegenüber Gesetzen der Satz „Reichs-
recht bricht Landesrecht“ und die aus ihm sich ergebende Pflicht des Richters, beim Widerspruch
des Landes- mit dem Reichsrecht letzteres und nicht ersteres anzuwenden, nichts zu tun hat, wurde
bereits oben S. 161 erwähnt. Eine weitere Sache für sich ist die Frage des Prüfungsrechts gegen-
über Verordnungen. Die Verordnungsgewalt ist (s. oben S. 161, 162) subjektiv identisch mit